Naturrecht und Geschichte — Leo Strauss, 1953

Leo Strauss’ Buch geht zurück auf seine Charles R. Wal­green-Vor­lesun­gen an der Uni­ver­sität Chica­go. Sie präsen­tieren einen Höhep­unkt in der Auseinan­der­set­zung von Strauss mit dem Natur­rechts­denken und der Kri­tik am Natur­recht, die vor allem im Namen des Recht­spos­i­tivis­mus geübt wurde. Strauss hat­te sich noch in der Weimar­er Repub­lik inten­siv mit dieser The­matik beschäftigt, wie das Vor­wort zu einem geplanten Buch über Hobbes von 1931 zeigt, und sollte auch noch später eine Form des Natur­rechts dem herrschen­den pos­i­tivis­tis­chen oder his­toris­tis­chen Rel­a­tivis­mus vorziehen.

Strauss nimmt seinen Aus­gangspunkt von der Tat­sache, daß das Natur­recht strit­tig gewor­den ist, obwohl es ein offenkundi­ges Bedürf­nis danach gibt. Dies zeigt sich, wenn wir von »ungerecht­en« Geset­zen oder Entschei­dun­gen sprechen, was eine Art über­pos­i­tiv­en Bew­er­tungs­maßstab voraus­set­zt. Strauss’€™ Kri­tik an der mod­er­nen Sozial­wis­senschaft richtet sich auf ihr Unver­mö­gen, einen solchen Maßstab bes­tim­men zu kön­nen, denn sie sei rein instru­mentell ori­en­tiert, könne also nicht über Zwecke urteilen.

Für Strauss bedeutete diese Konzep­tion den Tri­umph des Nihilis­mus. Er erkan­nte zudem, daß der lib­erale Rel­a­tivis­mus mit sein­er gren­zen­losen Tol­er­anz zwar seine Quellen in der Natur­recht­stra­di­tion der Tol­er­anz hat, zugle­ich aber auch ein Keim­bo­den der Intol­er­anz ist. So sei die unauswe­ich­liche prak­tis­che Folge des Nihilis­mus auch fanatis­ch­er Obsku­ran­tismus.

Um die Unhalt­barkeit der Kri­tik am Natur­recht aufzeigen zu kön­nen, fol­gte Strauss ein­er kom­plex­en und schein­bar para­dox­en Argu­men­ta­tions­fig­ur, insofern er glaubte, nur durch his­torische Unter­suchun­gen die Möglichkeit zur Wiedergewin­nung eines nicht-his­torischen Ver­ständ­niss­es des Natur­rechts zu erlan­gen. Damit fol­gte er sein­er Vorstel­lung, man müsse erst die Herrschaft der mod­er­nen Ideen durch­brechen, bevor ein erneutes Ver­ständ­nis der »natür­lichen Welt« möglich sei, die Strauss in poli­tis­ch­er Hin­sicht mit der griechis­chen Polis iden­ti­fizierte.

Strauss bietet den Ver­such, auf dem Wege philoso­phiegeschichtlich­er Rekon­struk­tion die Sache des Natur­rechts selb­st als zen­trales Prob­lem der klas­sis­chen poli­tis­chen Philoso­phie zu analysieren. Dabei disku­tiert er aus­führlich die Imp­lika­tio­nen der Ent­deck­ung der Natur für die Philoso­phie sowie die Unter­schiede zwis­chen Natur­recht und Kon­ven­tion­al­is­mus (in sein­er philosophis­chen und vul­gären Vari­ante) im Hin­blick auf die drän­gende Frage nach Gerechtigkeit und dem poli­tisch Guten.

Strauss’€™ kom­plexe Darstel­lung des Natur­rechts­denkens fol­gt ein­er Art Kreis­be­we­gung. Er begin­nt mit der Erörterung des Ver­hält­niss­es von Natur­recht und his­torisch­er Denkweise und bietet anschließend eine kri­tis­che Diskus­sion der Unter­schei­dung von Werten und Tat­sachen am Leit­faden Max Webers, in deren Rah­men Strauss auch den berühmten Trugschluß der reduc­tio ad Hitlerum ein­führt, der oft als Ersatz für die reduc­tio ad absur­dum ver­wen­det wor­den sei, aber ver­mieden wer­den müsse, denn eine Ansicht sei dadurch, »daß Hitler sie zufäl­lig auch hegte, nicht wider­legt«.

Dann wen­det er sich den Ursprün­gen der Natur­recht­sidee zu und ver­fol­gt den Weg des Natur­rechts­gedankens über das klas­sis­che Natur­rechts­denken vornehm­lich bei Pla­ton, Aris­tote­les und Cicero und das davon unter­schiedene mod­erne Natur­recht bei Thomas Hobbes und John Locke bis zur Krise des mod­er­nen Natur­rechts, wie es im Denken Jean-Jacques Rousseaus und Edmund Burkes the­ma­tisch wird. Strauss weist auch auf den Unter­schied des klas­sis­chen Natur­rechts zum Naturge­set­z­denken Thomas von Aquins hin, das aufs eng­ste mit der Offen­barungs­the­olo­gie ver­bun­den sei. Der Gegen­satz von antikem und mod­ernem Natur­recht erweist sich als Beispiel des Stre­its zwis­chen den Alten und den Mod­er­nen, den Strauss neu eröffnete, mit dem Ziel, die Wahrheit des pla­tonis­charis­totelis­chen Denkens unvor­ein­genom­men zu prüfen.

Natur­recht und Geschichte kann als Ver­such ver­standen wer­den, die poli­tis­ch­philosophis­che Her­aus­forderung anzunehmen, die im antipla­tonis­chen Denken Niet­zsches und Hei­deg­gers liegt, von dem Strauss in sein­er Frühzeit geprägt wurde. Durch das Studi­um der klas­sis­chen Philoso­phie sowie der ele­men­tarsten Prämis­sen der Bibel kann man, so Strauss, die »natür­liche Welt« rekon­stru­ieren, die nicht das Pro­dukt unser­er the­o­retis­chen Ambi­tio­nen ist. Damit wer­den aber auch ursprüngliche Wer­turteile wieder zugänglich, die notwendi­ger­weise mit unser­er poli­tis­chen Sprache und Prax­is ver­bun­den sind, denn was, so fragt Strauss, würde aus der Poli­tik­wis­senschaft wer­den, wenn sie nicht von Din­gen sprechen kön­nte, die durch Wer­turteile kon­sti­tu­iert sind, wie z.B. enger Parteigeist, Funk­tionär­sh­errschaft, Lob­by­is­mus, Staatskun­st, Kor­rup­tion oder gar sit­tliche Verderbtheit.

Das klas­sis­che Natur­recht, das Strauss präferierte, trug nicht den Charak­ter der Unverän­der­lichkeit, so daß es die Scyl­la des »Abso­lutismus« eben­so ver­mieden hat wie die Charyb­dis des »Rel­a­tivis­mus«. Danach gibt es eine uni­ver­sal gültige Hier­ar­chie der Zwecke, jedoch keine uni­ver­sal gülti­gen Hand­lungsregeln. Die Hier­ar­chie der Zwecke ist der einzige Maßstab, anhand dessen man Urteile über den Grad der Vornehmheit von Einzelper­so­n­en, Grup­pen, Hand­lun­gen und Insti­tu­tio­nen fällen kann.

Zen­trale Denkbe­we­gun­gen von Strauss’€™ Buch find­en sich in aktu­al­isiert­er und konkretisiert­er Form in der philosophis­chen Kul­turkri­tik Allan Blooms, die 1987 als The Clos­ing of the Amer­i­can Mind erschien und nach­haltig demon­stri­erte, daß Strauss’€™ poli­tis­che Philoso­phie mit ihrer Kri­tik an der Massendemokratie nichts an Brisanz ver­loren hat­te. Strauss’™ Natur­recht und Geschichte ist zweifel­los eines der tief­gründig­sten Werke der poli­tis­chen Philoso­phie im 20. Jahrhun­dert, das sich der Inspi­ra­tion des Sokrates ver­dankt.

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Zitat:

Wenn unsere Prinzip­i­en nur in unser­er blind­en Vor­liebe einen Halt haben, dann wird alles, was der Men­sch wagen will, erlaubt sein. Die gegen­wär­tige Ablehnung des Natur­rechts führt zu Nihilis­mus – nein, sie ist vielmehr iden­tisch mit dem Nihilis­mus.

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Aus­gabe:

  • Taschen­buchaus­gabe, Frank­furt a. M.: Suhrkamp 1989

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Lit­er­atur:

  • Clemens Kauff­mann: Leo Strauss zur Ein­führung, Ham­burg 1997
  • Till Kinzel: Pla­tonis­che Kul­turkri­tik in Ameri­ka. Stu­di­en zu Allan Blooms »The Clos­ing of the Amer­i­can Mind«, Berlin 2002
  • Ted V. McAl­lis­ter: Revolt Against Moder­ni­ty. Leo Strauss, Eric Voegelin, and the Search for a Postlib­er­al Order, Lawrence 1995