Politische Theologie

Poli­tis­che The­olo­gie ist ein äußerst dif­fuser Begriff; im weitesten Sinn kann unter Poli­tis­che The­olo­gie jede Verbindung von Poli­tik und Reli­gion ver­standen wer­den, auch ohne daß eine aus­for­mulierte The­olo­gie vorhan­den sein muß oder die The­olo­gie expliz­it Bezug auf die Poli­tik nimmt. Im eng­sten Sinn kann Poli­tis­che The­olo­gie definiert wer­den als jene Menge von Glaubens- oder glauben­sar­ti­gen Überzeu­gun­gen, die ver­bor­gen hin­ter dem Poli­tis­chen ste­hen.

Was die erste Auf­fas­sung recht­fer­tigt, ist die unbe­stre­it­bare Tat­sache, daß Reli­gion beziehungsweise The­olo­gie und Poli­tik seit jeher in einem – span­nungsre­ichen – Nahver­hält­nis standen. Keine tra­di­tionelle Ord­nung kam ohne religiöse Sank­tion­ierung aus, oft gab es Ver­suche, bei­de Mächte zusam­men­zuschließen, in Gestalt eines Cäsaropa­pis­mus (das Poli­tis­che dominiert das Religiöse) oder eines Papoc­äsaris­mus (das Religiöse dominiert das Poli­tis­che), ohne daß doch die Eigenge­set­zlichkeit des einen wie des anderen voll­ständig aufzuheben war.

Dabei haben die außereu­ropäis­chen Kul­turen, auch und ger­ade die Hochkul­turen, nie von der Idee der Ein­heit aus Poli­tik und The­olo­gie abge­lassen und sich erst durch die Europäisierung der Welt (Uni­ver­sal­is­mus) der Vorstel­lung ein­er prinzip­iellen Tren­nung angenähert. Die Entste­hung und die uner­wartete Dynamik der „Fun­da­men­tal­is­men“, vor allem im islamis­chen Bere­ich, erscheint, insofern als nahe­liegende Reak­tion auf einen Ent­frem­dung­sprozeß. Denn der Gedanke, daß Weltlich­es und Geistlich­es, „diese Welt“ und „jene Welt“, das Reich des Kaisers und das Reich Gottes grund­sät­zlich geschieden (wenn auch dauernd aufeinan­der bezo­gen) seien, kon­nte nur auf dem Boden des Chris­ten­tums entste­hen.

Allerd­ings hat auch hier erst die Säku­lar­isierung, die in Reak­tion auf die Erfahrung der großen Kon­fes­sion­skriege des 16. und 17. Jahrhun­derts ent­stand, der Auf­fas­sung Raum gegeben, daß eine Schei­dung sin­nvoll und notwendig sei, um das Gebi­et des Glaubens so weit zu neu­tral­isieren, daß religiöse Bürg­erkriege zukün­ftig unwahrschein­lich wür­den. Die radikalsten Schluß­fol­gerun­gen sind aus diesem Konzept erst im 20. Jahrhun­dert gezo­gen wor­den und erst an dessen Ende hat sich in Europa die Vorstel­lung durchge­set­zt, daß Staat und Kirche über­haupt nichts miteinan­der zu tun haben soll­ten.

Es ist allerd­ings zu beto­nen, daß es sich hier um einen europäis­chen Son­der­weg han­delt, dem wed­er in Ameri­ka noch in den islamisch geprägten Regio­nen Asiens und Afrikas gefol­gt wird, und in Europa selb­st hat sich die durch die Vordertür her­aus­ge­drängte Reli­gion durch die Hin­tertür wieder eingeschlichen. Ein Sachver­halt, den man vor allem an den inten­siv­en Debat­ten über eine „Zivil­re­li­gion“ able­sen kann, also eine Menge von Glaubenssätzen ohne aus­drück­lich religiösen Charak­ter, die doch qua­sire­ligiösen Charak­ter besitzen und entsprechen­den Gehor­sam ver­lan­gen. Man kann in diesem Zusam­men­hang die „Reli­gion der Men­schen­rechte“ (Josef Isensee) genau­so ins Feld führen wie die „poli­tis­che The­olo­gie des Holo­caust“ (Rein­hart Mau­r­er).

Die Gren­ze zu „poli­tis­chen Reli­gio­nen“ wie es sie in Gestalt der jakobinis­chen, kom­mu­nis­tis­chen, faschis­tis­chen und nation­al­sozial­is­tis­chen Bewe­gun­gen und Regime gegeben hat, kann dabei fließend erscheinen, ist aber im all­ge­meinen noch hin­re­ichend deut­lich gezo­gen. Das erschw­ert allerd­ings auch die Analyse Poli­tis­che The­olo­gie in kri­tis­ch­er Absicht, wie sie große kon­ser­v­a­tive  Denker – von Juan Donoso Cortés bis zu Carl Schmitt – entwick­elt haben, die stets darauf hin­wiesen, daß die Sta­bil­ität jedes poli­tis­chen Sys­tems von ein­er gewis­sen Glaubens­bere­itschaft der Regierten abhängt, die sich auf Vorstel­lun­gen bezieht, die man durch ein Expliz­it-Machen eher schwächt, durch ein Ver­bor­gen-Hal­ten eher stärkt.

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Zitate:

Jede große poli­tis­che Frage schließt stets auch eine große the­ol­o­gis­che Frage in sich. 

Juan Donoso Cortés

Auch die qua­sire­ligöse Abso­lut­set­zung der Demokratie als ange­blich herrschafts- und feind­freier Endlö­sung, die Gott nicht mehr nötig hat, weil die demokratis­che Gesellschaft sich selb­st der let­zte Hor­i­zont gewor­den ist, bedarf der Kri­tik.

Rein­hart Mau­r­er

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Lit­er­atur:

  • Claus-Ekke­hard Bärsch: Die poli­tis­che Reli­gion des Nation­al­sozial­is­mus [1998], zulet­zt München 2002
  • Juan Donoso Cortés: Essay über den Katholizis­mus, den Lib­er­al­is­mus und den Sozial­is­mus [1851/1989], zulet­zt Leipzig und Wien 2007
  • Rein­hart Mau­r­er: Das Absolute in der Poli­tik. Zur poli­tis­chen The­olo­gie des Holo­cust, in: Son­der­heft Merkur 9, Stuttgart 1999, S. 860–876
  • Carl Schmitt: Poli­tis­che The­olo­gie. Vier Kapi­tel zur Lehre von der Sou­veränität [1922], zulet­zt Berlin 1993