Ethik des Politischen — Helmut Thielicke, 1958

Der Titel des zweit­en Teils von Thielick­es Ethik erin­nert nicht zufäl­lig an Carl Schmitts Begriff des Poli­tis­chen, denn Thielicke set­zt sich über weite Streck­en expliz­it wie impliz­it mit dessen Ver­ständ­nis des »Poli­tis­chen« auseinan­der. Es geht ihm dabei vor allem um Klärung der Frage, in wieweit dem Poli­tis­chen aus christlich­er Sicht Eigenge­set­zlichkeit zuge­bil­ligt wer­den kann. Notwendig kommt der Protes­tant zu ein­er anderen Beant­wor­tung als der Katho­lik. Es wirkt da let­ztlich das Ver­ständ­nis der Zwei-Reiche- gegen die ältere Zwei-Schw­ert­er-Lehre nach. Das heißt,
wed­er wird von Thielicke eine Ver­christlichung des Staates durch die Kirche erwartet, noch eine voll­ständi­ge Loslö­sung des einen vom anderen gewün­scht.

Thielicke hält vielmehr an Luthers Ein­sicht in den Notcharak­ter der poli­tis­chen Ord­nung fest. Was bedeutet, daß diese Ord­nung eine notwendi­ge ist, aber eben auch eine not­dürftige, irdis­che, durch men­schliche Fehler und Män­gel beein­trächtigte.  Er leit­et seine Auf­fas­sung bib­lisch aus dem noa­chi­tis­chen Bund ab, dessen Kernbes­tim­mungen eine radikal pes­simistis­che Anthro­polo­gie (1. Mose 8,21c: »… denn das Dicht­en und Tra­cht­en des men­schlichen Herzens ist böse von Jugend auf«) und ein radikales Abschreck­ung­sprinzip (1. Mose 9,6: »Wer Men­schen­blut vergießt, dessen Blut soll auch durch Men­schen ver­gossen wer­den; denn Gott hat den Men­schen zu seinem Bilde gemacht.«) erken­nen lassen, bei­des aber an einen let­zten Zweck, näm­lich die Ver­mei­dung des Chaos, binden.

Die dop­pelte Bes­tim­mung sieht Thielicke auch durch die Botschaft des Neuen Tes­ta­ments nicht aufge­hoben. Eine Ansicht, die ihrer­seits in der lutherischen Abwehr des Schwärmer­tums wurzelt, das glaubt, das Gottes­re­ich mit Men­schen­macht auf Erden erricht­en zu kön­nen, aber auch gegen eine Ten­denz zur Staatsver­her­rlichung, die die poli­tis­che Ord­nung vergöt­tlicht und zur
»Schöp­fung­sor­d­nung« (Paul Althaus) erhebt. Bis zum Ende der sechziger Jahre dürfte Thielicke ein­er der ein­flußre­ich­sten evan­ge­lis­chen The­ol­gen in Deutsch­land gewe­sen sein. Viele sein­er Büch­er – vor allem die pop­ulären – erschienen in Best­seller­au­fla­gen, aber auch die wis­senschaftlichen Werke erfreuten sich ein­er bre­it­en Rezep­tion.

Von der Ethik des Poli­tis­chen wur­den immer­hin vier Aufla­gen gedruckt, ein erstaunlich­er Erfolg für eine fast achthun­dert Seit­en umfassende Darstel­lung. Bedauer­licher­weise ist von dieser Wirkung nach ‘€™68 fast nichts geblieben. Das hat mit dem Sieg link­er Ide­olo­geme inner­halb wie außer­halb der evan­ge­lis­chen Kirche und einem ras­an­ten Niveau­ver­lust der The­olo­gie zu tun; gegen die Gültigkeit von Thielick­es Denken ist damit nichts gesagt.

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Zitat:

Die Kon­gruenz von Fatal­is­mus und Vol­un­taris­mus ist ein inte­gri­eren­der Bestandteil jed­er der­ar­ti­gen Lehre von der Eigenge­set­zlichkeit.

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Aus­gabe:

  • 4., wesentlich erweit­erte und verbesserte Auflage, Tübin­gen: Mohr 1987

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Lit­er­atur:

  • Hel­mut Thielicke: Zu Gast auf einem schö­nen Stern. Erin­nerun­gen, Ham­burg 1984