Thielicke, Helmut — Theologe, 1908–1986

Hel­mut Thielicke, geboren am 4. Dezem­ber 1908 in Wup­per­tal, studierte The­olo­gie und Philoso­phie in Erlan­gen, Mar­burg, Greif­swald und Bonn. Eine schwere Schild­drüsen­erkrankung mit lang­wieri­gen Oper­a­tio­nen sorgte für Kom­p­lika­tio­nen und eine mehrjährige Unter­brechung seines akademis­chen Weges. Seinen Lehrern, ins­beson­dere Rudolf Her­mann und Julius Schniewind, wid­mete er noch in sein­er späten Auto­bi­ogra­phie dankbare Rem­i­niszen­zen. Karl Barth hörte er in Bonn, kon­nte aber die Sub­sum­mierung der Ethik in die Dog­matik sich nicht zu eigen machen.

Nach­dem die Krankheit durch ein Medika­ment, auf das Thielicke bis zum Ende seines Lebens angewiesen war, eingedämmt wer­den kon­nte, wurde er mit ein­er Arbeit über „Das Ver­hält­nis zwis­chen dem Ethis­chen und dem Ästhetis­chen“ zum Dr. phil. pro­moviert, und zwei Jahre später fol­gte die the­ol­o­gis­che Pro­mo­tion mit ein­er von Paul Althaus in Erlan­gen betreuten Unter­suchung über Geschichte und Exis­tenz. Grundle­gung ein­er evan­ge­lis­chen Geschicht­s­the­olo­gie. Schon 1935 schließt sich die Habil­i­ta­tion mit ein­er Unter­suchung über die Reli­gion­sphiloso­phie Less­ings an. 1936 wird Thielicke nach Hei­del­berg auf eine Pro­fes­sur für Sys­tem­a­tis­che The­olo­gie berufen. Er wird in den fol­gen­den Jahren mehrfach von der Gestapo ver­hört und schließlich 1940 seines Amtes enthoben. Es fol­gt die Ein­beru­fung an die Front. Durch Ver­wen­dung des Würt­tem­ber­gis­chen Lan­des­bischofs Theophil Wurm kann Thielicke aber für ein Pfar­ramt in Ravens­burg und ab 1942 in Stuttgart freigestellt wer­den. Er untern­immt in dieser Zeit eine rege Vor­trags- und Verkündi­gungstätigkeit, die durch Ver­bote wieder­holt unter­brochen wird.

Schon unmit­tel­bar nach Kriegsende ist Thielicke an der Reor­gan­i­sa­tion der the­ol­o­gis­chen Fakultät in Frank­furt am Main und wenig später in Tübin­gen beteiligt, wo er einen Lehrstuhl für Sys­tem­a­tis­che The­olo­gie übern­immt. Er wird im Jahr 1951 Rek­tor der Tübinger Uni­ver­sität und zugle­ich in das ein­flußre­iche Amt des Vor­sitzen­den der West­deutschen Rek­torenkon­ferenz gewählt.

Die Zeit sein­er größten öffentlichen Wirk­samkeit, aber auch von Angrif­f­en vor allem im Zusam­men­hang von 1968, liegt in Ham­burg, wohin er 1954 mit der Auf­gabe der Grün­dung ein­er neuen The­ol­o­gis­chen Fakultät berufen wird und wo er zugle­ich als Ordentlich­er Pro­fes­sor, zeitweise als Rek­tor und Dekan, und lange Jahre als Predi­ger in St. Michaelis wirk­sam ist. In den sechziger und siebziger Jahren schließen sich weltweite Reisen an; ins­beson­dere in den USA ent­fal­tet Thielicke großen Ein­fluß. Thielicke wirk­te als sprach­mächtiger Predi­ger und gab diese Erfahrun­gen nach sein­er Emer­i­tierung in der „Pro­jek­t­gruppe Glaubensin­for­ma­tion“ weit­er.

Spez­i­fikum sein­er The­olo­gie ist die Verbindung zwis­chen pro­fun­der Ken­nt­nis der europäis­chen Über­liefer­ung und ein­er klar Lutherisch ori­en­tierten Grund­hal­tung, wobei die refor­ma­torischen Unter­schei­dun­gen auf Prob­leme und Fragestel­lun­gen der Gegen­wart bezo­gen wer­den. Dies zeigt sich ins­beson­dere in sein­er 3‑bändigen The­ol­o­gis­chen Ethik (1958–64), die aus­ge­hend von Recht­fer­ti­gungs- und Zwei-Reiche-Lehre zen­trale Zweifels- und Kon­flik­t­fra­gen aufn­immt, das Gebot und die ethis­che Verpflich­tung dabei aber als Ver­weis auf die Gnade Gottes inter­pretiert.

Thielick­es Werk ist in mehr als 16 Kul­tur­sprachen veröf­fentlicht, und es war für die Zeitgenossen eines der überzeu­gend­sten Beispiele der intellek­tuellen und spir­ituellen Kraft des Protes­tantismus. Ihr ver­lieh Thielicke auch in der öffentlichen Debat­te Aus­druck, durch Ein­las­sun­gen zu allen großen Fra­gen von der Sex­u­alethik über die Atom­be­waffnung bis hin zum Ver­hält­nis zwis­chen Deutsch­land und Israel. Dabei war eine Lutherisch kon­ser­v­a­tive Grund­hal­tung maßgebend. Auch Ade­nauer schätzte Thielicke als Rat­ge­ber. 1962 sprach er zum 17. Juni vor dem Deutschen Bun­destag und warnte vor dem Sub­stanzver­lust der Demokratie und dem Nieder­gang des Vater­lands-Begriffs. Wenige Jahre später war der Zen­it des Anse­hens über­schrit­ten: Thielicke geri­et in das Visi­er der Stu­den­ten­re­volte von 1968, seine Kon­tak­te zu hohen Wirtschafts­führern wur­den Anlass ein­er Dif­famierung. Thielicke kon­terte mit dem Hin­weis auf die „schauer­liche Bewußt­se­in­strübung“ der Stu­den­ten jen­er Gen­er­a­tion. Auch dies war ein Grund für seinen Rück­zug auf das Schreiben und auf die Förderung junger The­olo­gen im Pfar­ramt, vor allem im Blick auf die Predigtvor­bere­itung. Thielicke war nicht nur selb­st ein leg­endär­er Predi­ger, dessen Predigten eben­so wie seine pop­ulären Schriften hohe Aufla­gen erre­icht­en. Er hielt auch die Predigt für die größte Auf­gabe des The­olo­gen in der Mod­erne.

Die the­ol­o­gis­che Ethik Thielick­es geht von der tiefen Krise des Säku­lar­is­mus aus. Er sieht diesen Fall zwis­chen 1933 und 1945 kul­minieren; und entwirft Ethik von hier her an „Gren­zsi­t­u­a­tio­nen“ (ein the­ol­o­gisch umgeprägter Begriff von Karl Jaspers) und Kon­flik­ten, in denen sich zu zeigen habe, „wie der Christ als Gerecht­fer­tigter und ‚Her­aus­gerufen­er’ inmit­ten ein­er Welt der Auflehnung leben“ darf. Thielicke for­muliert die Maxime, daß  der Kom­pro­miss der let­zte Schluß sei, zu dem ethis­che Weisheit gelan­gen könne. Unter­sucht wer­den im Blick auf den Kom­pro­miss Phänomene wie die Notlüge, aber auch das Ver­hal­ten des Men­schen im total­en Staat. Thielick­es Dog­matik Der Evan­ge­lis­che Glaube (3 Bde, 1968–1978) wen­det sich in refor­ma­torisch­er und offen­barungs­the­ol­o­gis­ch­er Lin­ie gegen eine Sub­jek­tivierung christlich­er Reli­gion, die er auf der Lin­ie von der Aufk­lärungs­the­olo­gie Spen­ers über Schleier­ma­ch­er bis Bult­mann ent­fal­tet sieht. Demge­genüber müsse in der Ein­heit von Glauben­sakt („Fides qua cred­i­tur“) und Glaubensin­halt („Fides quae cred­i­tur“) die Bindung des Sub­jek­tes wieder ent­deckt wer­den. Es gehe dabei auch um die Ver­wand­lung des Men­schen zur neuen Krea­tur. Die Neuschöp­fung des Men­schen in Chris­tus und die Wirk­samkeit des Heili­gen Geistes ste­ht indes im Zen­trum des Dog­ma­tis­chen Ansatzes. Die philosophis­chen Prämis­sen der The­olo­gie hat Thielicke in seinem Spätwerk Glauben und Denken in der Neuzeit (1983) beson­ders the­ma­tisiert.

Die Verbindung des bib­lis­chen Wortes mit der säku­laren Sit­u­a­tion der Gegen­wart ist ein beson­deres Pro­pri­um von Thielick­es Predigt- und Vor­tragskun­st. Thielicke war als kon­ser­v­a­tiv­er Luther­an­er ein Starthe­ologe mit öffentlich­er Wirk­samkeit ohne gle­ichen. Dem kon­trastiert eine nur begren­zte pos­tume Wirk­samkeit. Die Gründe liegen auf der Hand: Thielicke hat­te niemals eine Schule begrün­det und die Zeit­en gin­gen nicht zulet­zt im Sinn poli­tis­ch­er Ide­ol­o­gisierung des Protes­tantismus, die er zu Lebzeit­en scharf kri­tisiert hat­te, in eine andere Rich­tung.

Hel­mut Thielicke ver­starb am 5. März 1986 in Ham­burg.

– — –

Zitat:

Das Wort Gottes ist kein Ohren­schmaus, son­dern ein Ham­mer. Wer keine blauen Flecke davon­trägt, soll nicht meinen, es hätte bei ihm eingeschla­gen.

– — –

Schriften:

  • Geschichte und Exis­tenz. Grundle­gung ein­er evan­ge­lis­chen Geschicht­s­the­olo­gie. Güter­sloh 1935
  • Ver­nun­ft und Offen­barung. Eine Studie über die Reli­gion­sphiloso­phie Less­ings. Güter­sloh 1947
  • The­ol­o­gis­che Ethik, 3 Bde., Tübin­gen 1958–1964
  • Der Evan­ge­lis­che Glaube. Grundzüge der Dog­matik, 3 Bde., Tübin­gen 1968–1978
  • Men­sch sein – Men­sch wer­den. Entwurf ein­er christlichen Anthro­polo­gie, München 1976
  • Glauben und Denken in der Neuzeit. Die großen Sys­teme der The­olo­gie und Reli­gion­sphiloso­phie, Tübin­gen 1983
  • Zu Gast auf einem schö­nen Stern. Erin­nerun­gen, Ham­burg 1984

– — –

Lit­er­atur:

  • Ad van Ben­tum: Hel­mut Thielick­es The­olo­gie der Gren­zsi­t­u­a­tio­nen, Pader­born 1965
  • Friedrich Langsam: Hel­mut Thielicke. Konkre­tion in Predigt und The­olo­gie, Stuttgart 1996
  • Agne Nord­lan­der: Die Got­teben­bildlichkeit in der The­olo­gie Hel­mut Thielick­es, Diss. Upp­sala 1973
  • Leben angesichts des Todes. Festschrift Hel­mut Thielicke zum 60. Geburt­stag; Tübin­gen 1968
  • Zum Gedenken an Hel­mut Thielicke (1908–1986). Ansprachen auf der Akademis­chen Gedenk­feier am 4. Dezem­ber 1986, Ham­burg 1987