Helmut Thielicke, geboren am 4. Dezember 1908 in Wuppertal, studierte Theologie und Philosophie in Erlangen, Marburg, Greifswald und Bonn. Eine schwere Schilddrüsenerkrankung mit langwierigen Operationen sorgte für Komplikationen und eine mehrjährige Unterbrechung seines akademischen Weges. Seinen Lehrern, insbesondere Rudolf Hermann und Julius Schniewind, widmete er noch in seiner späten Autobiographie dankbare Reminiszenzen. Karl Barth hörte er in Bonn, konnte aber die Subsummierung der Ethik in die Dogmatik sich nicht zu eigen machen.
Nachdem die Krankheit durch ein Medikament, auf das Thielicke bis zum Ende seines Lebens angewiesen war, eingedämmt werden konnte, wurde er mit einer Arbeit über „Das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen“ zum Dr. phil. promoviert, und zwei Jahre später folgte die theologische Promotion mit einer von Paul Althaus in Erlangen betreuten Untersuchung über Geschichte und Existenz. Grundlegung einer evangelischen Geschichtstheologie. Schon 1935 schließt sich die Habilitation mit einer Untersuchung über die Religionsphilosophie Lessings an. 1936 wird Thielicke nach Heidelberg auf eine Professur für Systematische Theologie berufen. Er wird in den folgenden Jahren mehrfach von der Gestapo verhört und schließlich 1940 seines Amtes enthoben. Es folgt die Einberufung an die Front. Durch Verwendung des Württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm kann Thielicke aber für ein Pfarramt in Ravensburg und ab 1942 in Stuttgart freigestellt werden. Er unternimmt in dieser Zeit eine rege Vortrags- und Verkündigungstätigkeit, die durch Verbote wiederholt unterbrochen wird.
Schon unmittelbar nach Kriegsende ist Thielicke an der Reorganisation der theologischen Fakultät in Frankfurt am Main und wenig später in Tübingen beteiligt, wo er einen Lehrstuhl für Systematische Theologie übernimmt. Er wird im Jahr 1951 Rektor der Tübinger Universität und zugleich in das einflußreiche Amt des Vorsitzenden der Westdeutschen Rektorenkonferenz gewählt.
Die Zeit seiner größten öffentlichen Wirksamkeit, aber auch von Angriffen vor allem im Zusammenhang von 1968, liegt in Hamburg, wohin er 1954 mit der Aufgabe der Gründung einer neuen Theologischen Fakultät berufen wird und wo er zugleich als Ordentlicher Professor, zeitweise als Rektor und Dekan, und lange Jahre als Prediger in St. Michaelis wirksam ist. In den sechziger und siebziger Jahren schließen sich weltweite Reisen an; insbesondere in den USA entfaltet Thielicke großen Einfluß. Thielicke wirkte als sprachmächtiger Prediger und gab diese Erfahrungen nach seiner Emeritierung in der „Projektgruppe Glaubensinformation“ weiter.
Spezifikum seiner Theologie ist die Verbindung zwischen profunder Kenntnis der europäischen Überlieferung und einer klar Lutherisch orientierten Grundhaltung, wobei die reformatorischen Unterscheidungen auf Probleme und Fragestellungen der Gegenwart bezogen werden. Dies zeigt sich insbesondere in seiner 3‑bändigen Theologischen Ethik (1958–64), die ausgehend von Rechtfertigungs- und Zwei-Reiche-Lehre zentrale Zweifels- und Konfliktfragen aufnimmt, das Gebot und die ethische Verpflichtung dabei aber als Verweis auf die Gnade Gottes interpretiert.
Thielickes Werk ist in mehr als 16 Kultursprachen veröffentlicht, und es war für die Zeitgenossen eines der überzeugendsten Beispiele der intellektuellen und spirituellen Kraft des Protestantismus. Ihr verlieh Thielicke auch in der öffentlichen Debatte Ausdruck, durch Einlassungen zu allen großen Fragen von der Sexualethik über die Atombewaffnung bis hin zum Verhältnis zwischen Deutschland und Israel. Dabei war eine Lutherisch konservative Grundhaltung maßgebend. Auch Adenauer schätzte Thielicke als Ratgeber. 1962 sprach er zum 17. Juni vor dem Deutschen Bundestag und warnte vor dem Substanzverlust der Demokratie und dem Niedergang des Vaterlands-Begriffs. Wenige Jahre später war der Zenit des Ansehens überschritten: Thielicke geriet in das Visier der Studentenrevolte von 1968, seine Kontakte zu hohen Wirtschaftsführern wurden Anlass einer Diffamierung. Thielicke konterte mit dem Hinweis auf die „schauerliche Bewußtseinstrübung“ der Studenten jener Generation. Auch dies war ein Grund für seinen Rückzug auf das Schreiben und auf die Förderung junger Theologen im Pfarramt, vor allem im Blick auf die Predigtvorbereitung. Thielicke war nicht nur selbst ein legendärer Prediger, dessen Predigten ebenso wie seine populären Schriften hohe Auflagen erreichten. Er hielt auch die Predigt für die größte Aufgabe des Theologen in der Moderne.
Die theologische Ethik Thielickes geht von der tiefen Krise des Säkularismus aus. Er sieht diesen Fall zwischen 1933 und 1945 kulminieren; und entwirft Ethik von hier her an „Grenzsituationen“ (ein theologisch umgeprägter Begriff von Karl Jaspers) und Konflikten, in denen sich zu zeigen habe, „wie der Christ als Gerechtfertigter und ‚Herausgerufener’ inmitten einer Welt der Auflehnung leben“ darf. Thielicke formuliert die Maxime, daß der Kompromiss der letzte Schluß sei, zu dem ethische Weisheit gelangen könne. Untersucht werden im Blick auf den Kompromiss Phänomene wie die Notlüge, aber auch das Verhalten des Menschen im totalen Staat. Thielickes Dogmatik Der Evangelische Glaube (3 Bde, 1968–1978) wendet sich in reformatorischer und offenbarungstheologischer Linie gegen eine Subjektivierung christlicher Religion, die er auf der Linie von der Aufklärungstheologie Speners über Schleiermacher bis Bultmann entfaltet sieht. Demgegenüber müsse in der Einheit von Glaubensakt („Fides qua creditur“) und Glaubensinhalt („Fides quae creditur“) die Bindung des Subjektes wieder entdeckt werden. Es gehe dabei auch um die Verwandlung des Menschen zur neuen Kreatur. Die Neuschöpfung des Menschen in Christus und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes steht indes im Zentrum des Dogmatischen Ansatzes. Die philosophischen Prämissen der Theologie hat Thielicke in seinem Spätwerk Glauben und Denken in der Neuzeit (1983) besonders thematisiert.
Die Verbindung des biblischen Wortes mit der säkularen Situation der Gegenwart ist ein besonderes Proprium von Thielickes Predigt- und Vortragskunst. Thielicke war als konservativer Lutheraner ein Startheologe mit öffentlicher Wirksamkeit ohne gleichen. Dem kontrastiert eine nur begrenzte postume Wirksamkeit. Die Gründe liegen auf der Hand: Thielicke hatte niemals eine Schule begründet und die Zeiten gingen nicht zuletzt im Sinn politischer Ideologisierung des Protestantismus, die er zu Lebzeiten scharf kritisiert hatte, in eine andere Richtung.
Helmut Thielicke verstarb am 5. März 1986 in Hamburg.
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Zitat:
Das Wort Gottes ist kein Ohrenschmaus, sondern ein Hammer. Wer keine blauen Flecke davonträgt, soll nicht meinen, es hätte bei ihm eingeschlagen.
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Schriften:
- Geschichte und Existenz. Grundlegung einer evangelischen Geschichtstheologie. Gütersloh 1935
- Vernunft und Offenbarung. Eine Studie über die Religionsphilosophie Lessings. Gütersloh 1947
- Theologische Ethik, 3 Bde., Tübingen 1958–1964
- Der Evangelische Glaube. Grundzüge der Dogmatik, 3 Bde., Tübingen 1968–1978
- Mensch sein – Mensch werden. Entwurf einer christlichen Anthropologie, München 1976
- Glauben und Denken in der Neuzeit. Die großen Systeme der Theologie und Religionsphilosophie, Tübingen 1983
- Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen, Hamburg 1984
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Literatur:
- Ad van Bentum: Helmut Thielickes Theologie der Grenzsituationen, Paderborn 1965
- Friedrich Langsam: Helmut Thielicke. Konkretion in Predigt und Theologie, Stuttgart 1996
- Agne Nordlander: Die Gottebenbildlichkeit in der Theologie Helmut Thielickes, Diss. Uppsala 1973
- Leben angesichts des Todes. Festschrift Helmut Thielicke zum 60. Geburtstag; Tübingen 1968
- Zum Gedenken an Helmut Thielicke (1908–1986). Ansprachen auf der Akademischen Gedenkfeier am 4. Dezember 1986, Hamburg 1987