Friedland – Lager: Niedersachsen, 20 km südlich von Göttingen

Wer eine gewisse Empathie für ergreifende Ereignisse im Geschichts­buch der deutschen Nation nach dem Zweit­en Weltkrieg sein eigen nen­nt, für den dürften neben der Berichter­stat­tung über das »Wun­der von Bern« 1954 und den Szenen vom Mauer­fall im Novem­ber 1989 die Bilder aus dem Lager Fried­land aus dem Jahr 1955 zu den beson­ders berühren­den Erin­nerungsstück­en gehören.

Der 1 300-Ein­wohn­er-Ort, im äußer­sten Süden Nieder­sach­sens zwis­chen Göt­tin­gen und Witzen­hausen gele­gen und Namensge­ber für die ins­ge­samt 14 Orte zäh­lende Gemeinde, hat in Deutsch­land den guten Klang der Hoff­nung und der Frei­heit. Seit 1945 trafen hier zunächst Kriegs­ge­fan­gene und Flüchtlinge, später die Nach­hut der großen Vertrei­bung und Völk­er­wan­derung der Deutschen aus dem Osten ein. Ins­ge­samt mußten seit dem Zweit­en Weltkrieg mehr als 13 Mil­lio­nen Deutsche ihre Heimat im Osten ver­lassen. Für wie viele Hun­dert­tausende das Lager Fried­land das Tor zur Frei­heit wurde, läßt sich wohl kaum noch zählen.

Ein­er von ihnen war Wal­ter Figge aus Bad Hon­nef am Rhein. Er gehörte zu den ins­ge­samt knapp 10 000 Deutschen, die im Herb­st und Win­ter 1955/56 aus den Lagern der Sow­je­tu­nion in die Heimat zurück­kehrten. In den Heimat­städten wur­den die Mel­dun­gen von der bevorste­hen­den Rück­kehr der oft­mals Tot­geglaubten teil­weise frenetisch gefeiert. »Freuden­botschaft für Hon­nef: Wal­ter Figge kehrt heim«, so titelte etwa die Hon­nefer Volk­szeitung am 14. Okto­ber 1955 auf ihrer ersten Seite. Nach 13 lan­gen Jahren kon­nte seine Mut­ter den 30jährigen Mann erst­mals wieder in die Arme schließen. Als Wal­ter Figge vom Siebenge­birge aus in den Krieg gezo­gen war, war er 17 Jahre alt gewe­sen. Dazwis­chen lagen der Krieg und eine Rei­he sow­jetis­ch­er Lager, darunter auch das gefürchtete Worku­ta am Polarkreis. Für Figges Mut­ter hat­te es kein Hal­ten mehr gegeben, als das Telegramm aus Fried­land ein­traf, in dem Figge seine Rück­kehr ankündigte: Trotz Krankheit set­zte sie sich mit ihrem zweit­en Sohn, ihrer Schwest­er und ihrem Schwa­ger in den Wagen und fuhr ihrem Wal­ter nach Fried­land ent­ge­gen. Zu Hause liefen unter­dessen alle Vor­bere­itun­gen zum fes­tlichen Emp­fang des Heimkehrers.

Noch über 50 Jahre später erin­nern sich Wal­ter Figge und seine Frau an die Szenen, die sich damals daheim abspiel­ten – und Zeug­nis davon geben, wie das Ver­hält­nis der Deutschen zu ihren Vet­er­a­nen in den fün­fziger Jahren gewe­sen sein muß. Von den Häusern weht­en Fah­nen. Die Glock­en läuteten. Ein Meer wink­ender Hände und Taschen­tüch­er begrüßte Wal­ter Figge, als er im geschmück­ten Wagen ste­hend in Rich­tung seines Eltern­haus­es fuhr. Dort fan­den sich andern­tags Blu­men, Früh­stück­skörbe, Kinofreikarten, zahlre­iche Briefe und Glück­wun­schkarten sowie zahlre­iche Ange­bote von örtlichen Fir­men, die dem Heimkehrer eine Stelle anboten: »Jede beliebige kön­nen Sie haben. Wir wollen Ihnen helfen«, hieß es etwa. Auch Hon­nefs Bürg­er­meis­ter, dessen eigen­er Sohn im Osten ver­schollen war, schloß den Heimkehrer unter Trä­nen in die Arme. Ähn­lich ver­lief der Emp­fang auch ander­norts: mit Glock­en­geläut, Blu­men, Jubel und einem
Ehren­zug der Ortsvere­ine.

Und doch sorgte die Rück­kehr über das Lager Fried­land nicht nur für Freuden­trä­nen. In seinem Dra­ma Draußen vor der Tür hat­te der Schrift­steller Wolf­gang Borchert bere­its 1947 das Schick­sal viel­er Heimkehrer ver­ar­beit­et: Die verge­bliche Suche nach einem Platz im Nachkriegs­deutsch­land, in dessen All­t­agsleben nach etlichen Jahren in Gefan­gen­schaft nur schw­er Zugang zu find­en war. Zahlre­iche per­sön­liche Dra­men sind über­liefert, etwa von Gefan­genen, die Briefe von ihren Frauen aus der Heimat erhiel­ten, in denen diese um ihre »Freiga­be« bat­en, weil sie einen anderen
Mann heirat­en woll­ten. Auch die fra­gen­den Gesichter der Frauen und Müt­ter in Fried­land, die nichts mehr von ihren Lieben erfahren hat­ten, gehören zu den Bildern, die später auch für manch einen zur Qual wur­den, der es nach Hause geschafft hat­te. Frauen, die mit blassen Gesichtern in der Menge Namenss­childer und Fotos hochhiel­ten und deren Hoff­nung auch nach über einem Jahrzehnt nicht gestor­ben war.

Das Lager war nach dem Zweit­en Weltkrieg von der britis­chen Besatzungs­macht als eine zen­trale Stelle zur Kon­trolle und Koor­di­na­tion der Flüchtlingsströme ein­gerichtet wor­den. Fried­land, ursprünglich eine land­wirtschaftliche Ver­such­sein­rich­tung der Uni­ver­sität Göt­tin­gen, bot sich dafür an: gele­gen in der geo­graphis­chen Mitte Deutsch­lands an ein­er Stelle, wo die Gren­zen der britis­chen, amerikanis­chen und sow­jetis­chen Besatzungszone aneinan­der­stießen. Hier sam­melten sich ab Sep­tem­ber 1945 Flüchtlinge, die Ver­triebe­nen und Rück­kehrer aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Hier wur­den die ersten Aussiedler aus den ehe­mals deutschen Ost­ge­bi­eten durchgeschleust. Und hier lan­de­ten eben die Massen­trans­porte der Sol­dat­en aus Ruß­land.
Aus­ge­han­delt hat­te deren Freilas­sung 1955 der dama­lige Bun­deskan­zler Kon­rad Ade­nauer in Verbindung mit der Auf­nahme diplo­ma­tis­ch­er Beziehun­gen in Moskau. Ob es sich, wie es offizielle Sprachregelung war, tat­säch­lich um die »let­zten« in der Sow­je­tu­nion fest­ge­hal­te­nen deutschen Kriegs­ge­fan­genen han­delte, war lange umstrit­ten und kon­nte nie ver­läßlich gek­lärt wer­den.

Bis heute erin­nern das vier Meter hohe Heimkehrerdenkmal auf dem Hagen­berg nahe Fried­land und die Heimkehreroder Lager­glocke an diese Zeit. Die Glocke wurde stets geläutet, wenn  zwis­chen 1953 und 1956 wieder ein Heimkehrertrans­port aus dem Osten erwartet wurde. Eben­falls in den fün­fziger Jahren fan­den im Rah­men der »Oper­a­tion Link« durch den Krieg ver­sprengte Fam­i­lien wieder zusam­men. Flüchtlinge aus der DDR sucht­en in Fried­land einen Neuan­fang. Hinzu kamen später Emi­granten und Flüchtlinge aus Krisen­ge­bi­eten in aller Welt. Zulet­zt beherbergte es mehrere hun­dert Asyl­be­wer­ber aus einem Dutzend Län­der, darunter Afghanistan, Pak­istan und dem Irak.

Die islamis­chen Herkun­ft­slän­der haben mit­tler­weile den Lager­all­t­ag geprägt: Inzwis­chen ste­ht kein Schweine­fleisch mehr auf dem Speise­plan. Bis in die 1990er Jahre aber war das Durch­gangslager erste Sta­tion für Aussiedler und Spä­taussiedler aus Osteu­ropa, ins­beson­dere der früheren Sow­je­tu­nion. Als ihre Zahl mit der Wende im Osten sprung­haft anstieg, war dies für Fried­land eine Her­aus­forderung wie in  den ersten Nachkriegs­jahren. Auch damals sorgten die ein­fahren­den Züge mit den wink­enden Men­schen für bewe­gende Szenen. Wie 1955, als die Menge in Fried­land gemein­sam den Choral anstimmte, der seit­dem für viele Men­schen mit der Heimkehr der Gefan­genen ver­bun­den ist: »Nun dan­ket alle Gott.«

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Lit­er­atur:

  • Dag­mar Kleineke: Entste­hung und Entwick­lung des Lagers Fried­land 1945–1955, Göt­tin­gen 1992
  • Josef Red­ing: Fried­land. Chronik der großen Heimkehr, Würzburg 1989