Fünf plus Zwei — Stefan Scheil, 2003

»Man hat den Ver­stand ver­loren, wenn man bei anderen Leuten keinen mehr zu find­en hofft.« Dieser Satz de La Rochefou­caulds ste­ht als Vor­spruch in Ste­fan Scheils Buch Fünf plus Zwei und macht gle­ichzeit­ig etwas deut­lich über das wis­senschaftliche Ethos des Ver­fassers. Denn unter allen »revi­sion­is­tis­chen« His­torik­ern der jün­geren Gen­er­a­tion hat er ohne Zweifel die stärk­ste »pos­i­tivis­tis­che« Nei­gung, geht er am kon­se­quentesten von dem aufk­lärerischen Grund­satz aus, daß die Men­schen prinzip­iell ver­nun­ft­be­gabt und prinzip­iell fähig und wil­lens sind, sich ihrer Ver­nun­ft zu bedi­enen. Es gibt bei Scheil – trotz aller Unter­stel­lun­gen – keine Nei­gung, irgend etwas zu »recht­fer­ti­gen«, son­dern nur die in der heuti­gen Zeit erstaunliche Absicht, den Din­gen auf den Grund zu gehen und sich der his­torischen Wahrheit so weit anzunäh­ern wie irgend möglich.

Daß Scheil sich zum Gegen­stand die Geschichte des Nation­al­sozial­is­mus, genauer: die Geschichte der Außen­poli­tik in der Zeit des Nation­al­sozial­is­mus, gewählt hat, macht die Sache so heikel. Denn daß auf diesem Feld voraus­set­zungslose Forschung und Darstel­lung prak­tisch unmöglich sind, dürfte kein Geheim­nis sein. Trotz­dem hat er in mehreren umfan­gre­ichen Unter­suchun­gen (ange­fan­gen mit Logik der Mächte. Europas Prob­lem mit der Glob­al­isierung der Poli­tik, 1999) auf bre­it­er Quel­len­ba­sis ein Bild der Entwick­lung zwis­chen 1933 und 1941 geze­ich­net, das die übliche Inter­pre­ta­tion nach­haltig in Frage stellt. Von zen­traler Bedeu­tung sind dabei fünf Ein­sicht­en:

1. Hitler hat­te ursprünglich keine Absicht, einen Krieg gegen den West­en zu führen.

2. Der West­en wurde vom Kriegsaus­bruch 1939 nicht über­rascht.

3. Polen hat­te entschei­den­den Anteil an der Eskala­tion der Lage.

4. Es wäre bis 1940 möglich gewe­sen, einen Kom­pro­miß zu find­en.

5. Die USA und die Sow­je­tu­nion nah­men von Anfang an aktiv Teil am Spiel um die Welt­macht und waren prinzip­iell kriegswillig.

Man kann nicht behaupten, daß diese Auf­fas­sun­gen noch nie vor­ge­tra­gen wur­den, aber kein­er der Vorgänger Scheils hat die The­sen durch eine so umfassende Auswer­tung des Mate­ri­als gestützt und sie gle­ichzeit­ig in eine schlüs­sige Gesamt­in­ter­pre­ta­tion der Geschichte des mod­er­nen Staaten­sys­tems einge­fügt. Damit tritt die Fokussierung auf Deutsch­land zurück und wird ein­er ganz aus dem Blick ver­lore­nen Ansicht Gel­tung ver­schafft, die gegen die moralis­chen Inter­pre­ta­tio­nen des Zweit­en Weltkriegs aus der Sicht von Siegern wie Besiegten darauf hin­weist, daß alle Poli­tik immer von Macht­fra­gen beherrscht wird und daß das auch im Hin­blick auf die dreißiger und vierziger Jahre des let­zten Jahrhun­derts nicht anders war, obwohl ein­er der beteiligten Poli­tik­er Adolf Hitler hieß.

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Zitat:

Vor diesem Hin­ter­grund umschrieb Win­ston Churchills Wort vom »zweit­en dreißigjähri­gen Krieg« gegen Deutsch­land die Motive der west­lichen Eliten für den kom­pro­mißlosen Krieg sehr tre­f­fend.

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Aus­gabe:

  • 4. Auflage, Berlin: Dunck­er & Hum­blot 2009

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Lit­er­atur:

  • Ste­fan Scheil: Logik der Mächte. Europas Prob­lem mit der Glob­al­isierung der Poli­tik, Berlin 1999
  • Ste­fan Scheil: 1940/41. Die Eskala­tion des Zweit­en Weltkriegs, München 2005