Gedanken und Erinnerungen — Otto von Bismarck, 1898–1919

Bere­its 1877 hat­te sich Bis­mar­ck gegenüber seinem Mitar­beit­er Lothar Buch­er erst­mals über seine Absicht geäußert, Mem­oiren zu schreiben. Wirk­lich in Angriff genom­men wurde das Vorhaben jedoch erst nach seinem Sturz im März 1890. In dem Ver­trag, den Bis­mar­ck im Juli des­sel­ben Jahres mit dem Cot­ta-Ver­lag schloß, waren die Erin­nerun­gen auf sechs Bände angelegt. An dem in der Fol­gezeit ent­stande­nen Werk hat Lothar Buch­er maßge­blichen Anteil. Er nahm Bis­mar­cks Dik­tate auf, ord­nete die zum Teil unsys­tem­a­tis­chen Aus­führun­gen und ergänzte sie sach­lich.

Bis­mar­ck war – sehr zum Miß­fall­en Buch­ers – nicht in erster Lin­ie an ein­er möglichst objek­tiv­en Darstel­lung seines Wirkens und sein­er Zeit gele­gen, son­dern vor allem daran, sein Bild für die Nach­welt zu for­men und die Richtigkeit sein­er poli­tis­chen Konzep­tio­nen her­auszustellen. Für Mißlun­ge­nes schob er die Ver­ant­wor­tung anderen zu. Viele Pas­sagen ver­danken sich der nicht immer zuver­läs­si­gen Erin­nerung Bis­mar­cks, auch vor absichtlichen Entstel­lun­gen schreck­te er nicht zurück. Die Mem­oiren schrit­ten nur langsam voran; nach dem Tod Buch­ers im Okto­ber 1892 wurde das Werk nicht weit­er fort­geschrieben.

Der Ver­leger drängte, Bis­mar­ck nahm Über­ar­beitun­gen vor, kon­nte sich jedoch nicht entschließen, den Text für die Veröf­fentlichung freizugeben. Auss­chlaggebend dafür scheint vor allem seine scharfe Kri­tik an Wil­helm II. gewe­sen zu sein: Ein­er­seits miß­bil­ligte er dessen Poli­tik, im per­sön­lichen Bere­ich wirk­ten Tat­sache und Umstände sein­er »Ent­las­sung« nach, ander­er­seits kamen ihm prinzip­ielle Bedenken, daß er die Monar­chie durch seine Veröf­fentlichung beschädi­gen kön­nte, zumal es 1894 zu ein­er »Ver­söh­nung« zwis­chen dem Kaiser und Bis­mar­ck gekom­men war. Schließlich bestand das Erin­nerungswerk beim Tode Bis­mar­cks am 30. Juli 1898 aus zwei unveröf­fentlicht­en, als Fahne bzw. hand­schriftlich­es Manuskript vor­liegen­den Bän­den.

Der erste Band erschien nach nochma­liger Über­ar­beitung durch Horst Kohl, unter­stützt durch Her­bert von Bis­mar­ck, dann jedoch bere­its am 30. Novem­ber 1898, auf­grund des Umfangs unterteilt in zwei Bände unter dem Titel Gedanken und Erin­nerun­gen. Für den let­zten, nun­mehr drit­ten Band war vere­in­bart wor­den, ihn erst nach dem Tode Wil­helms II. erscheinen zu lassen. Nach der Abdankung des Kaisers sah der Ver­lag diese Vere­in­barung als gegen­stand­s­los an, so daß der verbleibende Band bere­its kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, gegen den Willen der Fam­i­lie Bis­mar­ck, veröf­fentlicht wurde.

Schon zeit­genös­sis­che His­torik­er macht­en darauf aufmerk­sam, daß der Wert der »Gedanken« in Bis­mar­cks Mem­oiren­werk den­jeni­gen der stets mit ander­weit­iger Über­liefer­ung abzu­gle­ichen­den »Erin­nerun­gen« weit über­steigt. Das für Bis­mar­ck stets hand­lungslei­t­ende Dik­tum fert unda nec regi­t­ur wird zwar in den Gedanken und Erin­nerun­gen nicht aus­drück­lich zitiert, kommt aber bei Darstel­lung und Kom­men­tierung der Vorgänge deut­lich zum Aus­druck.

Bis­mar­ck set­zt mit der Schilderung sein­er Erin­nerun­gen 1832, dem Jahr seines Schu­la­b­gangs, ein. Im ersten Kapi­tel sind die per­sön­lichen Ansicht­en und Prä­gun­gen ver­gle­ich­sweise dicht erzählt. Dieses Kapi­tel stellt den Werde­gang bis zum Wirken Bis­mar­cks im Vere­inigten Land­tag 1847 dar. Anhand des Lebenswegs Bis­mar­cks nehmen die Mem­oiren im Zusam­men­hang mit der Betra­ch­tung von einzel­nen Per­so­n­en, etwa Wil­helms I., bald mehr und mehr die Eini­gungs- und Außen­poli­tik in den Blick; die Kapi­tel des drit­ten und let­zten Ban­des reichen schließlich über die Darstel­lung Wil­helms II. bis hin zum Wirken von Bis­mar­cks Nach­fol­ger Leo von Caprivi.

Von ein­er voll­ständi­gen Erfas­sung der Epoche ist das Werk weit ent­fer­nt, zudem enthält es zahlre­iche Sprünge. Klar tritt zutage, daß es Bis­mar­ck um das Behar­ren auf sein­er außen­poli­tis­chen Lin­ie geht, etwa wenn er immer wieder auf die Bedeu­tung Ruß­lands hin­weist. Innen­poli­tisch stellt er neben anderem den Kul­turkampf dar und unter­stre­icht, daß es ger­ade für den protes­tantis­chen Staat keinen dauer­haften Frieden mit der katholis­chen Kirche geben könne, da es sich um zwei unab­hängige Mächte han­dle. Auf­fäl­lig ist das Schweigen Bis­mar­cks zu den Aspek­ten (und damit seinen Leis­tun­gen) der Wirtschafts- und der Sozialpoli­tik. Auch dies zeigt, wie stark seine Arbeit an den Mem­oiren von dem Gedanken geleit­et war, das von ihm geschaf­fene außen­poli­tis­che Sys­tem (und damit das seit den Eini­gungskriegen »sat­uri­erte« Deutsch­land) als unbe­d­ingt erhal­tenswert zu vertei­di­gen. Zu lesen sind die Gedanken und Erin­nerun­gen aber auch als »Diplo­maten­spiegel von großem Stile« (Erich Mar­cks).

Die Bedeu­tung von Pro­gram­men und Ide­alen von Grup­pen oder Parteien schätzt Bis­mar­ck nicht allzu hoch ein. Selb­st im Wis­sen um die Abhängigkeit von den Umstän­den zählt nach seinem Dafürhal­ten vor allem der einzelne, das Wirken der Per­sön­lichkeit. So enthält das Werk eine Vielzahl von Per­so­n­en­charak­ter­is­tiken – zwar meist präg­nant, aber oft sub­jek­tivab­schätzig.
Auch hier sind die damit ver­bun­de­nen all­ge­meineren Äußerun­gen von größerem Wert als das Urteil über die jew­eilige Per­son.

Bis­mar­cks Mem­oiren­werk war ein großer Erfolg. Ursprünglich hat­ten sich allein 43 Ver­lage um die Veröf­fentlichung bemüht. Als die ersten bei­den Bände 1898 erschienen, waren inner­halb kürzester Zeit 300 000 Exem­plare verkauft. Trotz des anhal­tenden Inter­ess­es, welch­es mit der Pub­lika­tion des drit­ten Ban­des erneut ange­facht wurde und ungeachtet der Vielzahl der vor­liegen­den Aus­gaben, han­delt es sich wohl um eines der gut verkauften, aber wenig gele­se­nen Werke, deren Titel den­noch geläu­fig sind.

Eine poli­tis­che The­o­rie, die über mit konkreten Ereignis­sen ver­bun­dene Kom­mentare oder einzelne Hand­lungs­maxi­men hin­aus­ge­ht, wird man den Gedanken und Erin­nerun­gen nicht ent­nehmen kön­nen. Dage­gen sprechen allein schon die Umstände der Entste­hung des Werkes und seine offenkundi­ge Inten­tion. Für ein Gesam­turteil über das poli­tis­che Denken Bis­mar­cks sind in jedem Falle seine anderen Schriften, die Vielzahl der Akten und Briefe, mit einzubeziehen. Ein abstrak­tes, wider­spruchs­freies Denk- und Wertesys­tem wird sich jedoch auch hier nicht kon­stru­ieren lassen – dazu war Bis­mar­ck dem Gedanken der Nichtvorherse­hbarkeit und der Realpoli­tik zu stark verpflichtet.

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Zitat:

Abso­lutismus der Kro­ne ist eben­so wenig halt­bar wie Abso­lutismus der par­la­men­tarischen Majoritäten, das Erforderniß der Ver­ständi­gung bei­der für jede Aen­derung des geset­zlichen sta­tus quo ist ein gerecht­es …

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Aus­gabe:

  • Mit ein­er Ein­führung von Her­mann Proeb­st, München: Her­big 2007

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Lit­er­atur:

  • Man­fred Hank: Kan­zler ohne Amt. Fürst Bis­mar­ck nach sein­er Ent­las­sung 1890–1898, München 1980
  • Erich Mar­cks: Fürst Bis­mar­cks Gedanken und Erin­nerun­gen. Ver­such ein­er kri­tis­chen Würdi­gung, Berlin 1899
  • Otto Pflanze: Bis­mar­cks Gedanken und Erin­nerun­gen, in: George Egerton (Hrsg.): Polit­i­cal Mem­oir. Essays on the Pol­i­tics of Mem­o­ry, Lon­don 1994