Geheimes Deutschland — Manfred Riedel, 2006

In seinen späteren Leben­s­jahren wandte sich Man­fred Riedel von Niet­zsche her dem Zusam­men­hang von Denken und Dicht­en und der geisti­gen und ästhetis­chen For­mung Deutsch­lands in Europa zu. Dabei trat zunehmend Ste­fan George in den Mit­telpunkt, den Riedel aber, in der Lin­ie sein­er eige­nen Niet­zsche-Deu­tun­gen, im Zusam­men­hang der klas­sis­chen deutschen Philoso­phie und Dich­tung zwis­chen Goethe, Schiller und Hölder­lin ver­ste­ht.

Riedels vor­let­ztes abgeschlossenes Buch verbindet ein tief­drin­gen­des philosophis­ches Zwiege­spräch mit Ste­fan Georges Dich­tung mit der Frei­le­gung des geisti­gen Hor­i­zontes der Brüder Stauf­fen­berg. Der Zusam­men­hang von Wort, innerem Han­deln und poli­tis­ch­er Tat ste­ht im Zen­trum des sub­til kom­ponierten Werkes, das auch neue Quel­len­funde erschließt und die Realgeschichte erzählt.

Riedels zen­trale These besagt, daß sich das Ethos eines europäis­chen Deutsch­land im Hor­i­zont des Reichs­gedankens als natio­nenüber­greifend­er Ver­ankerung in klas­sisch-human­is­tis­ch­er, antik­er und christlich­er Über­liefer­ung gegenüber den Zer­störun­gen ein­er ökon­o­mistis­chen glob­alen Mod­erne und den Ver­heerun­gen des ide­ol­o­gis­chen Zeital­ters neu stiften lasse. Eine Rück­kehr zur Reli­gion in ihrer Unmit­tel­barkeit schien ihm ver­schlossen. Es ist die Kun­st, namentlich die Dich­tung, von der diese erin­nernde Begrün­dung aus­ge­hen muß.

Man­fred Riedel legt im einzel­nen das Wort vom »geheimen Deutsch­land« als das Zen­trum des George-Kreis­es offen. Dabei geht es auch darum, das Heilige und Geheime Deutsch­land gegen die nach 1945 von den West­mächt­en beschworene abstrak­te Größe des »Anderen Deutsch­land« in Stel­lung zu brin­gen. Die Idee des Geheimen Deutsch­land ver­weist auf die Wiederfind­ung des Eige­nen der Deutschen in einem Uni­ver­sal­re­ich. Riedel spricht vom Vater­land (Patria) in der Zeit und erin­nert den klas­sis­chen, auch bei Kant begeg­nen­den Gedanken des untrennbaren Zusam­men­hangs von Patri­o­tismus und Uni­ver­sal­is­mus. Dafür ste­ht Hölder­lins Kon­tra­punkt von Hel­las und Hes­pe­rien ein, der durch die Inter­pre­ta­tion Nor­bert von Hellingraths für George und seinen Kreis von größter inspiri­eren­der Bedeu­tung war.

Riedel rekon­stru­iert allerd­ings auch Georges Zwiesprache mit Dilthey und Max Weber, die die Patholo­gie der Mod­erne als »Niedrig­w­er­den des Herzens« begreift und ihr das »innere Reich« ent­ge­genset­zt, das aber nicht in inneren Kreisen (»Coenakeln«) eingeschlossen bleibt, son­dern zu Gestal­tung und Hand­lung fordert. Die Vision eines höheren, schöneren Lebens zeich­net Riedel aus Georges großen Hym­nen nach, die er auf ihre Real­isierung im George-Kreis hin befragt, im Sinn der George-Zeile: »nur durch den zauber bleibt das leben wach«.

Beson­ders geht Riedel der Zuge­hörigkeit der jüdis­chen Stim­men in dem »inneren Staat« nach, und deutet damit auch Zer­brechen und Entzweiun­gen im George-Kreis nach dem Tod des Meis­ters und in der Exilierung. Riedel kann diesen inneren Wider­stre­it vor dem Hin­ter­grund von Alexan­der von Stauf­fen­bergs Poem und den Res­o­nanzen der exilierten Mit­glieder des Kreis­es, Ernst Kan­torow­icz und Karl Wolfskehl, ein­drucksvoll sicht­bar machen.

Stauf­fen­bergs Weg zum Han­deln führte, auch dies zeigt Riedels Buch, zu der preußis­chen Staat­sidee und dem Reform­plan Gneise­naus, immer freilich in dem Wis­sen, daß die »Sicher­heit der Throne« auf Poe­sie gegrün­det ist. Stauf­fen­bergs Glaubens­beken­nt­nis (»Wir wollen ein Volk, das in der Erde der Heimat ver­wurzelt den natür­lichen Mächt­en nahe bleibt … Wir wollen Führende, die, aus allen Schicht­en des Volkes wach­send, ver­bun­den den göt­tlichen Mächt­en, durch großen Sinn, Zucht und Opfer den anderen vor­ange­hen …«) und das – nach dem Mißbrauch der Swasti­ka – neue Sym­bol des Del­phins, wer­den als Schlüs­sel des Wider­stand­sak­tes gedeutet.

Riedels Buch unter­schei­det sich deut­lich von den zahlre­ichen Pub­lika­tio­nen zu George und seinem Kreis: Nicht his­torische Kon­tex­tu­al­isierung, Dekon­struk­tion, Entza­uberung ist sein Ziel, son­dern ein Hören auf die Stimme der Über­liefer­ung mit dem geisti­gen Ohr, eine hermeneutis­che Verge­gen­wär­ti­gung, die das Erbe des Geheimen Deutsch­land wachzuhal­ten sucht. Damit näherte sich Riedel gegen Ende seines Lebens wieder auf ein­er tief­er­en Ebene der Frage nach dem Grund und der Stiftung der bürg­er­lichen Gesellschaft, die ihn schon in sein­er Habil­i­ta­tion­ss­chrift beschäftigt hat­te.

Das Buch ist vielfach mit Bewun­derung aufgenom­men wor­den. Eine Bre­it­en­wirkung blieb Riedel indes ver­sagt. Dies muß nicht wun­dernehmen, angesichts des Main­streams in Philoso­phie eben­so wie in Kul­tur­wis­senschaften und Ger­man­is­tik. Die Zeit für diese andere Deu­tung der Mod­erne wird noch kom­men.

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Zitat:

Es ist die Tragik des deutschen Wider­stands, daß die West­mächte Unter­stützung auch den­jeni­gen ver­weigerten, die wie die Stauf­fen­bergs im Hitler­regime jene von Churchill erkan­nte »unge­heuer­liche Tyran­nei« zu beseit­i­gen gedacht­en, deren beispiel­lose Ver­brechen gegen Völk­er-und Men­schen­recht das durch­laufende, denkwürdi­ge Europa-Kapi­tel in den Annalen deutsch­er Geschichte für null und nichtig erk­lärte, – als hätte es nie ein »geheimes europäis­ches Deutsch­land« gegeben.

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Lit­er­atur:

  • Bruno Pieger/Bertram Schefold (Hrsg.): Ste­fan George. Dich­tung – Ethos – Staat. Denkbilder für ein geheimes europäis­ches Deutsch­land, Berlin 2010
  • Har­ald Seu­bert: Akroa­matik und speku­la­tive Hermeneu­tik. Zum Gedenken an Man­fred Riedel (1936–2009), in: Per­spek­tiv­en der Philoso­phie 35 (2009)