Geschichte

Geschichte ist grund­sät­zlich alles, was geschehen ist, aber nur der Men­sch hat Geschichte, er ist ein geschichtlich­es Wesen, weil er die Verän­derung und mit ihr die Vergänglichkeit von allem, was ist, reflek­tiert. Dabei mag ein anti­quar­isches Inter­esse mit­spie­len, das gibt aber nicht den Auss­chlag. Die Beschäf­ti­gung mit der Geschichte hat­te immer – auch als sie vom Mythos noch kaum unter­schieden war – einem Erken­nt­nis­in­ter­esse gedi­ent, das über das Anek­do­tis­che hin­aus­re­ichte. Die Geschichte bietet Indi­vidu­um und Gemein­schaft die Möglichkeit, einen Begriff von sich selb­st zu schaf­fen, Kon­turen der Iden­tität zu bes­tim­men, indem das, was man ist, erk­lärt wird durch die Art und Weise seines Gewor­den-Seins.

Zwar stammt der Satz »Jene, die sich nicht an die Ver­gan­gen­heit erin­nern, sind dazu ver­dammt, sie zu wieder­holen« von dem Kon­ser­v­a­tiv­en George San­tayana, aber ger­ade auf der Recht­en gab und gibt es einen erhe­blichen Vor­be­halt gegenüber jed­er päd­a­gogis­chen Stra­pazierung der Geschichte, der wohl am knapp­sten begrün­det wurde durch die Sen­tenz Jacob Bur­ck­hardts »Die Geschichte macht nicht klug für ein ander Mal, son­dern weise für immer«.

Die Kon­ser­v­a­tiv­en zweifeln grund­sät­zlich daran, daß man der Geschichte Rezepte ent­nehmen kann, weil sie eine beson­dere Sen­si­bil­ität für die irra­tionalen Aspek­te geschichtlich­er Prozesse haben. Sie beto­nen deren Ein­ma­ligkeit und Abhängigkeit vom Wirken der han­del­nden Per­so­n­en. Das hat vor allem zwei wichtige Kon­se­quen­zen für das kon­ser­v­a­tive Denken:

1. Prinzip­ielle Vor­sicht gegenüber der Annahme von Geset­zmäßigkeit­en in der Geschichte; kon­ser­v­a­tive Geschicht­sphilosophen wie Oswald Spen­gler haben zwar auf »Analo­gien« hingewiesen und auch Prog­nosen über bes­timmte Abläufe in der Zukun­ft gegeben, aber ohne die Macht der Kontin­genz zu leug­nen;
2. Ablehnung ein­er Zielangabe, etwa im Sinn eines »Endes der Geschichte«, falls darunter eine Art paradiesis­ch­er Abschluß des eigentlich his­torischen Zeital­ters ver­standen wer­den soll.

Es erk­lärt sich so rel­a­tiv leicht die prinzip­ielle Frontstel­lung der Kon­ser­v­a­tiv­en gegenüber allen Fortschrittside­olo­gien. Der Annahme ein­er prinzip­iellen Höher­en­twick­lung des Men­schengeschlechts, wie sie die Linke und die Lib­eralen pfle­gen, kann äußer­sten­falls die These der Invo­lu­tion – des unun­ter­broch­enen Abstiegs (Dekadenz) von einem Gold­e­nen Zeital­ter her – ent­ge­gengestellt wer­den; häu­figer sind aber die Annah­men alternieren­der Bewe­gun­gen, in denen sich Blüte und Nieder­gang abwech­seln, oder des tragis­chen Aus­mün­dens geschichtlich­er Prozesse.

Die beson­dere Sen­si­bil­ität des Kon­ser­v­a­tiv­en für die »Geschichtlichkeit« läßt ihn über­haupt als den Men­schen »vor der Geschichte« (Armin Mohler) erscheinen, das heißt als den, der sich sein­er Einge­bun­den­heit in die Zeit bewußt bleibt, die Unumkehrbarkeit der Geschichte betrauern mag, aber doch hin­nimmt, und weiß, welche außeror­dentliche Leis­tung darin beste­ht, im ständi­gen Wan­del ein­er Sache Dauer zu ver­lei­hen. Weit­er wurzelt darin ein phänom­e­nol­o­gis­ch­er Zug des kon­ser­v­a­tiv­en Denkens, das sich eher für das his­torisch gewor­dene Einzelne, weniger für die großen Abstrak­tio­nen inter­essiert, die nur sicht­bar wer­den, wenn man das Geschichtlich-Konkrete (Konkre­tion) ver­nach­läs­sigt oder ignori­ert, und das hängt auch zusam­men mit der Her­vorhe­bung des »Ver­ste­hens« bei der Beschäf­ti­gung mit der Ver­gan­gen­heit und der »ganz bes­timmten Rich­tung des geisti­gen Inter­ess­es« (Erich Rothack­er), die dem zugrunde gelegt wer­den muß.

Es ergibt sich daraus allerd­ings eine gewisse Gefahr, insofern nicht nur alle Epochen »unmit­tel­bar zu Gott« sind – um eine For­mulierung Rankes abzuwan­deln –, son­dern über­haupt alle geschichtlichen Erschei­n­un­gen als gle­ich­w­er­tig betra­chtet wer­den kön­nten. Einem solchen Rel­a­tivis­mus ist let­ztlich nur durch den Bezug auf die Annahme ein­er Ganzheit und des Entwick­lung­sprinzips zu begeg­nen.

Geschichtlichkeit bedeutet für den Kon­ser­v­a­tiv­en, daß in der Welt nichts für die Ewigkeit bes­timmt ist. Deshalb hat auch der Begriff des Schick­sals einen fes­ten Platz in sein­er Weltan­schau­ung, ohne daß man dessen Annahme mit Fatal­is­mus ver­wech­seln dürfte; eher teilen alle Kon­ser­v­a­tiv­en eine gewisse Melan­cholie bei der Betra­ch­tung der Geschichte. Bes­tim­mend bleibt für die Prax­is aber die kon­ser­v­a­tive Sorge vor dem Ver­fall ein­er bes­timmten his­torischen Gestalt (Ganzheit), ein­er Heimat, ein­er Nation, ein­er Kul­tur.

– — –

Zitate:

Men­schliche Dinge ken­nen­zuler­nen, gibt es eben zwei Wege: den der Erken­nt­nis des einzel­nen und den der Abstrak­tion; der eine ist der Weg der Philoso­phie, der andere der der Geschichte. Einen anderen Weg gibt es nicht, und selb­st die Offen­barung begreift bei­des in sich: abstrak­te Sätze und His­to­rie. Diese bei­den Erken­nt­nisquellen sind also wohl zu schei­den.
Leopold von Ranke

Die Geschichte ver­läuft nicht so glatt und klar, wie die human­is­tis­che Betra­ch­tung wäh­nt: weil die Ent­ge­genset­zung in der Natur der Dinge liegt. Es gibt keinen endgülti­gen Sieg.
Alfred Baeum­ler

– — –

Lit­er­atur:

  • Jacob Bur­ck­hardt: Welt­geschichtliche Betra­ch­tun­gen [1905], zulet­zt Stuttgart 2005
  • Armin Mohler: Der Kon­ser­v­a­tive vor der Geschichte. Einige unsys­tem­a­tis­che Bemerkun­gen, in Gerd-Klaus Kaltenbrun­ner (Hrsg.): Die Zukun­ft der Ver­gan­gen­heit, Herder­bücherei Ini­tia­tive, Bd 8, Freiburg i.Br. 1975, S. 131–134
  • Leopold von Ranke: Geschichte und Philoso­phie, in ders.: Geschichte und Poli­tik. Aus­gewählte Auf­sätze und Meis­ter­schriften, hrsg. von Hans Hof­mann, Stuttgart 1940, S. 133–137
  • Erich Rothack­er: Logik und Sys­tem­atik der Geis­teswis­senschaften [1927], zulet­zt Darm­stadt 1970