Kaltenbrunner, der bereits im Kindesalter publizierte, siedelte 1962 in die Bundesrepublik über. Der gebürtige Österreicher (*23. Februar in Wien) wirkte zuerst im Rombach-Verlag, später wechselte er zu Herder. Als Herausgeber der im konservativen Lager rege rezipierten „Herderbücherei Initiative“ (seit 1974) wurde er schnell bekannt, bis 1988 erschienen 75 Bände. Noch heute besticht die große Zahl an Themen, die von verschiedenen wissenschaftlichen Standpunkten aus eine realistische Anthropologie vorstellen und begründen wollen.
Kaltenbrunners weit ausholende Analysen über Gegenwart und Geschichte des Konservatismus aus den 1970er Jahren zeigen, daß das zeitweise Paktieren von führenden Vertretern des Konservatismus mit dem Nationalsozialismus, aber auch viele soziologische Veränderungen im Nachkriegsdeutschland, etwa die Entwicklung der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, eine unkritische Beschäftigung mit eigenen Traditionen unmöglich macht.
Zusammen mit Caspar von Schrenck-Notzing fungierte Kaltenbrunner nicht nur als Vordenker der „Tendenzwende“, die Mitte der 1970er Jahre in aller Munde war; er prägte und verbreitete diesen Begriff. Sein Verdienst ist es, eine konservative Theorie vorgelegt zu haben, die als Rüstzeug mit dem Arsenal der Neuen Linken mithalten konnte. Sie zeigt, daß Konservatismus mehr zu bieten hat als den Rekurs auf antikommunistische Ressentiments und theologische Versatzstücke.
Wie nur wenigen gelang es ihm, glaubwürdig den „Verzicht auf Illusionen und Lebenslügen“ zu erklären, wie sie Konservative häufig noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg pflegten, und gleichzeitig die Aktualität, ja Lebensnotwendigkeit eines erneuerten Konservatismus aufzuzeigen. Dazu zählt auch ein ökologischer Ansatz, der den Zeitgenossen zeigen sollte, warum gerade vor dem Hintergrund einer dynamisch-technischen Zivilisation das konservierende Element einen erhöhten Stellenwert besitzt: Veränderungen müssen, so sein Forderung, im Sinne der Beweislastverteilung gerechtfertigt werden, nicht die Bewahrung.
Weiterhin argumentiert der Gelehrte auf der Basis der modernen Verhaltensforschung, vor allem der von Konrad Lorenz und seiner Schule hervorgebrachten Forschungsergebnisse. Diese Erkenntnisse dienen als Gegengewicht zu den vielen zeitgenössischen Reformutopien. Ordnung und Institutionen spielen in Kaltenbrunners Konservatismus-Verständnis ebenso eine Rolle wie eine Philosophie der Freiheit, die aber die Voraussetzungen der Freiheit einschließen soll.
Das Projekt der „Rekonstruktion des Konservatismus“ wollte Kaltenbrunner mit Hilfe umfangreicher, von ihm herausgegebener Sammelbände, an denen sich die Koautoren Hans Sedlmayr, Alfred von Martin, Armin Mohler, Salcia Landmann und andere beteiligen, durchführen. Sein Ziel war die Renaissance konservativen Denkens, für das er nicht nur Zeichen der Zeit ausmachte, sondern dem er auch zum Durchbruch verhelfen wollte.
Gleichzeitig betonte Kaltenbrunner die Notwendigkeit, die Errungenschaften des neuzeitlichen Denkens (Gewaltenteilung, Menschenrechte, Pluralismus, Wahlrecht etc.) vor deren Gefährdung durch hyperprogressive Anmaßungen zu verteidigen. Zentral für seine Ausrichtung ist eine neue Deutung alter Kategorien konservativer Reflexion: Erbe, Stabilität, Ordnung, Staatsautorität, Freiheit und Pessimismus. Konservatismus dient aus dieser Perspektive zur Einsicht in katastrophale Wandlungsprozesse, mehr aber noch zu deren Verhinderung. Kein Autor hat bisher eine dem österreichischen Schriftsteller vergleichbare theoretische Grundlegung eines modernen Konservatismus vorlegen können.
In den 1980er Jahren rückte Kaltenbrunners Denken in der Sicht mancher Kritiker nach rechts. In Publikationen und Interviews würdigte er Außenseiter der Historiker- und Politologen-Zunft, darunter Hellmut Diwald, Wolfgang Strauss und Hans-Joachim Arndt. Kaltenbrunner lobte die Besinnung etlicher jüngerer Konservativen und Sozialisten auf die nationale Identität. Diese Beschäftigung fand ihren Höhepunkt in einem 1980 in der Herder-Reihe Initiative erschienenen Sammelband Was ist deutsch? 1987 veröffentlichte die Zeitschrift Mut seinen programmatischen Aufsatz Bestimmt Hitler die Richtlinien der deutschen Politik?, der bei der Linken auf besondere Ablehnung stößt. Als Summe seines Lebenswerkes erschienen drei umfangreiche Bände Europa, ebenso die Trilogie Vom Geist Europas. Diese Werke enthalten eine große Fülle von Essays über Persönlichkeiten, die die geistig-kulturelle Entwicklung dieses Kontinents maßgeblich bestimmt haben.
Ab den frühen 1990er Jahren zog sich Kaltenbrunner immer mehr zurück. Vor diesem Hintergrund ist auch sein als mystisch eingestuftes Spätwerk zu deuten. Die Abhandlung Johannes ist sein Name untersucht den gleichnamigen Priesterkönig und Gralshüter, dessen Einfluss in der abendländischen Geistesgeschichte kaum unterschätzt werden kann. Obwohl es sich um keine historisch bezeugte Figur handelt, ist sie in Erzählungen, Metaphern und Legenden präsent. Kaltenbrunner verfolgt das Weiterleben der legendären Gestalt in ihren mannigfachen Metamorphosen bis hin zu den letzten Hütern der „Überlieferung des ‚Heiligen Reiches‘“ Stefan George, Julius Evola, Leopold Ziegler, Reinhold Schneider, Othmar Spann und Edgar Julius Jung.
Die zweite materialreiche Monographie des Spätwerks ist dem Theologen und Philosophen (Pseudo-)Dionysius Areopagita aus dem fünften Jahrhundert gewidmet. Kaltenbrunner zeigt, wie sehr der Enzyklopädist, Polyhistor, Ästhet, Esoteriker, Erotiker, Mystagoge und vieles mehr in seinem Werk Areopagitica ewige Wahrheiten formuliert, ohne die mittelalterliche und neuzeitliche Größen wie Thomas von Aquin, Dante, Goethe, Schelling und Görres nicht verstanden werden können. Den Band runden Stimmen zu Dionysius Areopagita ab, die vom mittelalterlichen Komponisten Philippe de Vitry über Arthur Schopenhauer, Hugo Ball und Hans Urs von Balthasar bis zu Abt Athanasius Sendlinger reichen. Auch in dieser letzten großen Darstellung setzt Kaltenbrunner sein jahrzehntelanges, fruchtbares Unternehmen fort, die Quellen abendländischer Weisheitslehre so umfassend wie nur möglich zu rekonstruieren.
Kaltenbrunner starb am 12. April 2011 in Lörrach.
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Zitat:
Konservative Theorie nimmt ihren Ausgang vom Menschen und versteht sich als ein Beitrag zur Kunst, ein Mensch zu sein.
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Schriften:
- (als Hrsg.): Rekonstruktion des Konservatismus, Freiburg 1972
- (als Hrsg.): Konservatismus international, Stuttgart 1973
- Der schwierige Konservatismus. Definitionen, Theorien, Porträts, Herford/Berlin 1975
- Europa. Seine geistigen Quellen in Portraits aus 2 Jahrtausenden, 3 Bde, Heroldsberg 1981–1985
- Vom Geist Europas, 3 Bde, Asendorf 1987–1992
- Johannes ist sein Name. Priesterkönig, Gralshüter, Traumgestalt, Zug i. d. Schweiz 1993
- Dionysius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine, Zug i. d. Schweiz 1996