Kaltenbrunner, Gerd-Klaus, Philosoph, 1939–2011

Kaltenbrun­ner, der bere­its im Kinde­salter pub­lizierte, siedelte 1962 in die Bun­desre­pub­lik über. Der gebür­tige Öster­re­ich­er  (*23. Feb­ru­ar in Wien) wirk­te zuerst im Rom­bach-Ver­lag, später wech­selte er zu Herder. Als Her­aus­ge­ber der im kon­ser­v­a­tiv­en Lager rege rezip­ierten „Herder­bücherei Ini­tia­tive“ (seit 1974) wurde er schnell bekan­nt, bis 1988 erschienen 75 Bände. Noch heute besticht die große Zahl an The­men, die von ver­schiede­nen wis­senschaftlichen Stand­punk­ten aus eine real­is­tis­che Anthro­polo­gie vorstellen und begrün­den wollen.

Kaltenbrun­ners weit aus­holende Analy­sen über Gegen­wart und Geschichte des Kon­ser­vatismus aus den 1970er Jahren zeigen, daß das zeitweise Pak­tieren von führen­den Vertretern des Kon­ser­vatismus mit dem Nation­al­sozial­is­mus, aber auch viele sozi­ol­o­gis­che Verän­derun­gen im Nachkriegs­deutsch­land, etwa die Entwick­lung der „niv­el­lierten Mit­tel­stands­ge­sellschaft“, eine unkri­tis­che Beschäf­ti­gung mit eige­nen Tra­di­tio­nen unmöglich macht.

Zusam­men mit Cas­par von Schrenck-Notz­ing fungierte Kaltenbrun­ner nicht nur als Vor­denker der „Ten­den­zwende“, die Mitte der 1970er Jahre in aller Munde war; er prägte und ver­bre­it­ete diesen Begriff. Sein Ver­di­enst ist es, eine kon­ser­v­a­tive The­o­rie vorgelegt zu haben, die als Rüstzeug mit dem Arse­nal der Neuen Linken mithal­ten kon­nte. Sie zeigt, daß Kon­ser­vatismus mehr zu bieten hat als den Rekurs auf antikom­mu­nis­tis­che Ressen­ti­ments und the­ol­o­gis­che Ver­satzstücke.

Wie nur weni­gen gelang es ihm, glaub­würdig den „Verzicht auf Illu­sio­nen und Lebenslü­gen“ zu erk­lären, wie sie Kon­ser­v­a­tive häu­fig noch lange nach dem Zweit­en Weltkrieg pflegten, und gle­ichzeit­ig die Aktu­al­ität, ja Leben­snotwendigkeit eines erneuerten Kon­ser­vatismus aufzuzeigen. Dazu zählt auch ein ökol­o­gis­ch­er Ansatz, der den Zeitgenossen zeigen sollte, warum ger­ade vor dem Hin­ter­grund ein­er dynamisch-tech­nis­chen Zivil­i­sa­tion das kon­servierende Ele­ment einen erhöht­en Stel­len­wert besitzt: Verän­derun­gen müssen, so sein Forderung, im Sinne der Beweis­lastverteilung gerecht­fer­tigt wer­den, nicht die Bewahrung.

Weit­er­hin argu­men­tiert der Gelehrte auf der Basis der mod­er­nen Ver­hal­tens­forschung, vor allem der von Kon­rad Lorenz und sein­er Schule her­vorge­bracht­en Forschungsergeb­nisse. Diese Erken­nt­nisse dienen als Gegengewicht zu den vie­len zeit­genös­sis­chen Refor­mu­topi­en. Ord­nung und Insti­tu­tio­nen spie­len in Kaltenbrun­ners Kon­ser­vatismus-Ver­ständ­nis eben­so eine Rolle wie eine Philoso­phie der Frei­heit, die aber die Voraus­set­zun­gen der Frei­heit ein­schließen soll.

Das Pro­jekt der „Rekon­struk­tion des Kon­ser­vatismus“ wollte Kaltenbrun­ner mit Hil­fe umfan­gre­ich­er, von ihm her­aus­gegeben­er Sam­mel­bände, an denen sich die Koau­toren Hans Sedl­mayr, Alfred von Mar­tin, Armin Mohler, Sal­cia Land­mann und andere beteili­gen, durch­führen. Sein Ziel war die Renais­sance kon­ser­v­a­tiv­en Denkens, für das er nicht nur Zeichen der Zeit aus­machte, son­dern dem er auch zum Durch­bruch ver­helfen wollte.

Gle­ichzeit­ig betonte Kaltenbrun­ner die Notwendigkeit, die Errun­gen­schaften des neuzeitlichen Denkens (Gewal­tenteilung, Men­schen­rechte, Plu­ral­is­mus, Wahlrecht etc.) vor deren Gefährdung durch hyper­pro­gres­sive Anmaßun­gen zu vertei­di­gen. Zen­tral für seine Aus­rich­tung ist eine neue Deu­tung alter Kat­e­gorien kon­ser­v­a­tiv­er Reflex­ion: Erbe, Sta­bil­ität, Ord­nung, Staat­sautorität, Frei­heit und Pes­simis­mus. Kon­ser­vatismus dient aus dieser Per­spek­tive zur Ein­sicht in katas­trophale Wand­lung­sprozesse, mehr aber noch zu deren Ver­hin­derung. Kein Autor hat bish­er eine dem öster­re­ichis­chen Schrift­steller ver­gle­ich­bare the­o­retis­che Grundle­gung eines mod­er­nen Kon­ser­vatismus vor­legen kön­nen.

In den 1980er Jahren rück­te Kaltenbrun­ners Denken in der Sicht manch­er Kri­tik­er nach rechts. In Pub­lika­tio­nen und Inter­views würdigte er Außen­seit­er der His­torik­er- und Poli­tolo­gen-Zun­ft, darunter Hell­mut Diwald, Wolf­gang Strauss und Hans-Joachim Arndt. Kaltenbrun­ner lobte die Besin­nung etlich­er jün­ger­er Kon­ser­v­a­tiv­en und Sozial­is­ten auf die nationale Iden­tität. Diese Beschäf­ti­gung fand ihren Höhep­unkt in einem 1980 in der Herder-Rei­he Ini­tia­tive erschiene­nen Sam­mel­band Was ist deutsch? 1987 veröf­fentlichte die Zeitschrift Mut seinen pro­gram­ma­tis­chen Auf­satz Bes­timmt Hitler die Richtlin­ien der deutschen Poli­tik?, der bei der Linken auf beson­dere Ablehnung stößt. Als Summe seines Lebenswerkes erschienen drei umfan­gre­iche Bände Europa, eben­so die Trilo­gie Vom Geist Europas. Diese Werke enthal­ten eine große Fülle von Essays über Per­sön­lichkeit­en, die die geistig-kul­turelle Entwick­lung dieses Kon­ti­nents maßge­blich bes­timmt haben.

Ab den frühen 1990er Jahren zog sich Kaltenbrun­ner immer mehr zurück. Vor diesem Hin­ter­grund ist auch sein als mys­tisch eingestuftes Spätwerk zu deuten. Die Abhand­lung Johannes ist sein Name unter­sucht den gle­ich­nami­gen Priesterkönig und Gral­shüter, dessen Ein­fluss in der abendländis­chen Geis­tes­geschichte kaum unter­schätzt wer­den kann. Obwohl es sich um keine his­torisch bezeugte Fig­ur han­delt, ist sie in Erzäh­lun­gen, Meta­phern und Leg­en­den präsent. Kaltenbrun­ner ver­fol­gt das Weit­er­leben der leg­endären Gestalt in ihren man­nig­fachen Meta­mor­pho­sen bis hin zu den let­zten Hütern der „Über­liefer­ung des ‚Heili­gen Reich­es‘“ Ste­fan George, Julius Evola, Leopold Ziegler, Rein­hold Schnei­der, Oth­mar Spann und Edgar Julius Jung.

Die zweite mate­ri­al­re­iche Mono­gra­phie des Spätwerks ist dem The­olo­gen und Philosophen (Pseudo-)Dionysius Are­opagi­ta aus dem fün­ften Jahrhun­dert gewid­met. Kaltenbrun­ner zeigt, wie sehr der Enzyk­lopädist, Poly­his­tor, Ästhet, Eso­terik­er, Erotik­er, Mys­t­a­goge und vieles mehr in seinem Werk Are­opagit­i­ca ewige Wahrheit­en for­muliert, ohne die mit­te­lal­ter­liche und neuzeitliche Größen wie Thomas von Aquin, Dante, Goethe, Schelling und Gör­res nicht ver­standen wer­den kön­nen. Den Band run­den Stim­men zu Diony­sius Are­opagi­ta ab, die vom mit­te­lal­ter­lichen Kom­pon­is­ten Philippe de Vit­ry über Arthur Schopen­hauer, Hugo Ball und Hans Urs von Balthasar bis zu Abt Athana­sius Sendlinger reichen. Auch in dieser let­zten großen Darstel­lung set­zt Kaltenbrun­ner sein jahrzehn­te­langes, frucht­bares Unternehmen fort, die Quellen abendländis­ch­er Weisheit­slehre so umfassend wie nur möglich zu rekon­stru­ieren.

Kaltenbrun­ner starb am 12. April 2011 in Lör­rach.

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Zitat:

Kon­ser­v­a­tive The­o­rie nimmt ihren Aus­gang vom Men­schen und ver­ste­ht sich als ein Beitrag zur Kun­st, ein Men­sch zu sein.

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Schriften:

  • (als Hrsg.): Rekon­struk­tion des Kon­ser­vatismus, Freiburg 1972
  • (als Hrsg.): Kon­ser­vatismus inter­na­tion­al, Stuttgart 1973
  • Der schwierige Kon­ser­vatismus. Def­i­n­i­tio­nen, The­o­rien, Porträts, Herford/Berlin 1975
  • Europa. Seine geisti­gen Quellen in Por­traits aus 2 Jahrtausenden, 3 Bde, Herolds­berg 1981–1985
  • Vom Geist Europas, 3 Bde, Asendorf 1987–1992
  • Johannes ist sein Name. Priesterkönig, Gral­shüter, Traumgestalt, Zug i. d. Schweiz 1993
  • Diony­sius vom Are­opag. Das Uner­gründliche, die Engel und das Eine, Zug i. d. Schweiz 1996