Rekonstruktion des Konservatismus — Gerd Klaus Kaltenbrunner, 1972

Wenige Jahre nach den Stu­den­te­nun­ruhen von 1968 und dem Beginn eines linken Marsches durch die Insti­tu­tio­nen legte der junge Lek­tor Gerd-Klaus Kaltenbrun­ner einen umfan­gre­ichen Sam­mel­band zu ein­er Rekon­struk­tion des Kon­ser­vatismus vor. Er ver­stand diesen Band als Grund­lage für einen möglichen poli­tis­chen Gege­nen­twurf, als Rekon­struk­tion ein­er Posi­tion, von der aus eine »Ten­den­zwende« (Kaltenbrun­ner) ein­geläutet wer­den kön­nte.

Warum es notwendig sei, den Kon­ser­vatismus zu »rekon­stru­ieren«, erläutert Kaltenbrun­ner in seinem Vor­wort: Kon­ser­v­a­tiv zu sein, gelte in Deutsch­land in weit­en Kreisen als gle­ichbe­deu­tend mit reak­tionär, restau­ra­tiv, ver­gan­gen­heits­fix­iert oder gar anti­demokratisch und faschis­toid.

Kaltenbrun­ner skizziert mit dem »alle poli­tisch-sozialen Sys­teme durch­drin­gen­den tech­nisch-zivil­isatorischen Prozeß« und der »utopisch-anar­chis­tis­chen, radikaldemokratis­chen und sozial­rev­o­lu­tionären Neuen Linken« den tech­nokratis­chen und den linken Wider­part eines Kon­ser­vatismus, wie er ihn ver­standen haben wollte: Er sei nicht ein »Hän­gen an dem, was gestern war«, son­dern ein »Leben aus dem, was immer gilt« (Albrecht Erich Gün­ther).

Die Rekon­struk­tion dieses Gülti­gen ver­merkt Kaltenbrun­ner als eine der Triebfed­ern der Autoren, die er ver­sam­meln kon­nte und mit deren Auswahl und pub­lizis­tis­chem Auf­marsch er von vorn­here­in das Verdikt John Stu­art Mills aushe­belte, die Kon­ser­v­a­tiv­en seien die »Partei der Dum­men«. Mit seinem Sam­mel­band wollte er nichts weniger unternehmen als den Ver­such, »jene Voraus­set­zun­gen freizule­gen, die den Kon­ser­vatismus auch kün­ftig als Ethos, Denkweise und Poli­tik erhe­blich sein lassen« kön­nten.

Der Band ist in drei Teile gegliedert: Für die »The­o­rie des Kon­ser­vatismus« (Teil I) ste­hen neben Kaltenbrun­ners eigen­em Beitrag (»Der schwierige Kon­ser­vatismus«) auch Beiträge von Hans Sedl­mayr (»Erneuerung als kon­ser­v­a­tives Prinzip«) und Aurel Kol­nai (»Kon­ser­v­a­tives und rev­o­lu­tionäres Ethos«); Teil II (»Zur Geschichte des Kon­ser­vatismus«) enthält mit »Die preußis­chen Kon­ser­v­a­tiv­en« von Hans-Joachim Schoeps einen der weni­gen Nach­drucke. In diesem Teil fehlen natür­lich wed­er Armin Mohlers Beitrag über »Die Kon­ser­v­a­tiv­en und die Rechte in Frankre­ich«, Sal­cia Land­manns »Der Kon­ser­vatismus der Juden« oder Alfred von Mar­tins »Weltan­schauliche Motive im altkon­ser­v­a­tiv­en Denken«. Der Kon­ser­vatismus in Öster­re­ich, Ungarn, Spanien und Ruß­land wird eben­so behan­delt wie »Die römisch-katholis­che Kirche als kon­ser­v­a­tive Groß­macht« (Hans Küh­n­er).

Skizzen­haft und inspiri­erend ist der III. Teil, der unter der Über­schrift »Gestal­ten und Prob­leme des Kon­ser­vatismus« das The­ma auf­fächert: Es erscheinen »Marx und Engels als kon­ser­v­a­tive Denker« (Mar­tin Pud­er), Jakob Baxa unter­sucht näher­liegend »Roman­tik und kon­ser­v­a­tive Poli­tik«, Hein­rich Strakosch die Möglichkeit ein­er Syn­these zwis­chen »Lib­er­al­is­mus und Kon­ser­vatismus« und Thomas Mol­nar das Ver­hält­nis von »Kon­ser­vatismus und Intel­li­genz«.

Es war Kaltenbrun­ner selb­st, der von der Rekon­struk­tion (einem Vergewis­serungs­buch) aus die Ten­den­zwende zu betreiben ver­suchte. Etliche Autoren tauchen als Beiträger sein­er Herder­bücherei Ini­tia­tive auf, in der er ab 1975 alle zwei Monate eine Art Zeitschrift in Taschen­buch­for­mat vor­legte und aktuelle Fra­gen aus kon­ser­v­a­tiv­er Sicht durchdek­lin­ieren ließ. Daß den Kon­ser­v­a­tiv­en Anfang der siebziger Jahre noch viel­er­lei Wege für ihren Gege­nen­twurf zur Ver­fü­gung standen, zeigte sich etwa auch an der Über­nahme der Rekon­struk­tion in das Pub­lika­tion­sange­bot der Bun­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung – ein Vor­gang, der heute bei ähn­lich­er Autoren­liste unvorstell­bar wäre, was wiederum zeigt, daß die Wende bish­er nicht gelun­gen ist.

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Zitat:

… anhänglich an das Gegebene; miß­trauisch gegenüber Neuerun­gen; am Beste­hen­den, Erprobten, Bewährten fes­thal­tend; die Erfahrung des Lebens den Kon­struk­tio­nen des Intellek­ts entsch­ieden vorziehend; Dauer, Beständigkeit und Tra­di­tion instink­tiv beja­hend; skep­tisch gegenüber jedem Radikalis­mus, gegenüber Utopi­en und Zukun­ftsver­heißun­gen; stets vom Konkreten aus­ge­hend und die Möglichkeit­en des Men­schen eher unter-als über­schätzend…

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Aus­gabe:

  • 3. Auflage, Bern/Stuttgart: Haupt 1978

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Lit­er­atur:

  • Sezes­sion (2010), Heft 38: Kon­ser­v­a­tiv