Grenzen der Gemeinschaft — Helmuth Plessner, 1924

Wenige Wochen nach dem Hitler­putsch vom 9. Novem­ber 1923 schloß Hel­muth Pless­ner das Manuskript der Gren­zen der Gemein­schaft ab. Das Buch nimmt auf das Ereig­nis nicht direkt Bezug, es ist aber dur­chaus auf die dama­lige Sit­u­a­tion bezo­gen: Die Fol­gen des Ver­sailler Dik­tats desta­bil­isierten die Repub­lik, und paramil­itärische Kräfte von rechts und links probten den Auf­s­tand. Die Lage dro­hte zu eskalieren, als alli­ierte Trup­pen im Jan­u­ar 1923 das Ruhrge­bi­et beset­zten, um ausste­hende Repa­ra­tionszahlun­gen einzutreiben. Die Folge waren Hyper­in­fla­tion und poli­tis­che Ohn­mächtigkeit des deutschen Staates.

In dieser Sit­u­a­tion schreibt der Philosoph Hel­muth Pless­ner, 1920 an der Uni­ver­sität Köln habil­i­tiert, sein erstes sozi­ol­o­gis­ches Buch, in dem er die Ten­denz des Zeit­geistes, den sozialen Radikalis­mus, kri­tisiert, der zur Gemein­schaft­side­olo­gie und damit zur Flucht des Indi­vidu­ums in eine Gemein­schaft führt. Pless­ner schließt damit an die Unter­schei­dung von Gemein­schaft und Gesellschaft an, die Fer­di­nand Tön­nies in die Sozi­olo­gie einge­bracht hat­te. Es geht Pless­ner allerd­ings weniger um einen wis­senschaftlichen Beitrag zu diesem Prob­lem als eine essay­is­tis­che Stel­lung­nahme, die sich die Reform der »Nationalerziehung« und Vertei­di­gung der Gesellschaft auf die Fah­nen geschrieben hat.

Pless­ner macht Niet­zsche (Her­ren­moral) und Marx (Gemein­schaftsmoral) als die Wurzeln der Gemein­schaft­side­olo­gie aus, die sich als Faschis­mus und Kom­mu­nis­mus bzw. als nationaler und inter­na­tionaler Kom­mu­nis­mus artikulieren. Das Prob­lem sieht Pless­ner vor allem darin, daß die Gemein­schaft dazu neigt, dem einzel­nen kein Pri­vatleben zu gön­nen und damit einen Abso­lutheit­sanspruch zu erheben. Den Grund sieht er in der Ver­mis­chung von Poli­tik und Moral, die eine umfassende soziale Erneuerung, eine Rev­o­lu­tion, bedeutet. Der Men­sch soll in der Gemein­schaft von der Ent­frem­dung, von der Diplo­matie und dem sozialen Rol­len­spiel befre­it wer­den. In Deutsch­land sieht er eine beson­dere Schwäche für solche Ide­olo­gien.

Pless­ner geht in sein­er Kri­tik von dem Erleben des einzel­nen aus, ohne daraus das Ganze zu kon­stru­ieren. Er plädiert für den »Mut zur Wirk­lichkeit«, sich an Sit­u­a­tio­nen statt an Werten zu ori­en­tieren. Die Öffentlichkeit der Gesellschaft ist notwendig, um über den Punkt, der über Liebe und Ver­wandtschaft hin­aus­ge­ht, mit Men­schen zusam­men­leben zu kön­nen. Dabei kom­men dem Takt, der Dis­tanz, dem Zer­e­moniell, der Maske und der Diplo­matie eine beson­dere Rolle zu.

Pless­ners Buch ist zwar bei Erscheinen rege besprochen wor­den, hat aber kein­er­lei Wirkung ent­fal­tet. Durch die geschichtlichen Ereignisse sah er sich sowohl in sein­er später aus­gear­beit­eten These vom »deutschen Son­der­weg« als auch in sein­er War­nung vor den Gefahren der Gemein­schaft bestätigt. Durch die Emi­gra­tion ist Pless­ner von der Entwick­lung der deutschen Sozi­olo­gie abgeschnit­ten gewe­sen und kon­nte erst nach dem Krieg als Pro­fes­sor in Göt­tin­gen neue Wirk­samkeit ent­fal­ten. Erst sehr spät ist diese frühe Schrift Pless­ners, u.a. als eine frucht­bare Rezep­tion von Carl Schmitts Schriften zur Poli­tis­chen Roman­tik (1919) und Poli­tis­chen The­olo­gie (1922), wieder­ent­deckt wor­den. Wolf­gang Sof­sky hat als Pless­ners indi­rek­ter Schüler in jüng­ster Zeit das Motiv der Vertei­di­gung des Pri­vat­en (2007) wieder­aufgenom­men.

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Zitat:

Unsere moralis­che Hal­tung lei­det an ein­er Über­be­to­nung der Gesin­nung, des Gewis­sens und der inner­lich erfaßbaren Werte. Man kann nicht nur das Leben nicht dauernd gewis­senhaft, gesin­nung­shaft leben, man soll es auch nicht.

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Aus­gabe:

  • Mit einem Nach­wort von Joachim Fis­ch­er, Frank­furt a. M.: Suhrkamp 2002

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Lit­er­atur:

  • Christoph Dejung: Hel­muth Pless­ner. Ein deutsch­er Philosoph zwis­chen Kaiser­re­ich und Bon­ner Repub­lik, Zürich 2003