Identität bedeutet Übereinstimmung mit sich selbst. Sie ist für den Menschen insofern ein Problem, als seine seelische Stabilität Identität voraussetzt, seine Identität aber keine Selbstverständlichkeit darstellt, sondern dauernden Wandlungen unterworfen ist. Insofern kann sowohl von Identitätsstörung als auch von der Notwendigkeit einer Identitätsfindung gesprochen werden.
Wenn nicht von individueller, sondern von kollektiver Identität die Rede ist, zeigen sich im Prinzip ganz ähnliche Probleme wie beim einzelnen. Obwohl jede menschliche Sozialform ein Selbstverständnis braucht, das den Angehörigen sagt, was das “Wir” ausmacht, kann dessen Identität doch kaum als statisch betrachtet werden, sondern unterliegt Veränderungen, die immer aufs neue die Beantwortung der Frage erzwingen, was denn nun die Identität dieses größeren Ganzen ausmacht.
Man hat dieses Problem durch Analogiebildungen zu lösen versucht — beispielsweise den Vergleich der Gemeinschaft mit einem “großen Menschen” -, durch die Annahme eines Kollektivgeistes, der merklich-unmerklich die Einheit trotz aller äußeren Veränderungen über die Zeit hinweg erhält oder durch die Idee einer natürlichen Stabilität (Natur). Eine vierte Möglichkeit ist die Betonung des narrativen Elements, was bedeutet, daß wie schon im Fall der einzelnen Person auch die Gruppe ihre Identität dadurch erhält und ausbildet, daß man ihr von den Ursprüngen und vom Schicksal, die identitätsstiftend und ‑stärkend wirkten, berichtet. Soziale Mythen im Sinne Sorels erfüllen diese Funktion.
Unter dem Eindruck der Entkolonialisierung, die zum sprunghaften Anwachsen der Menge kollektiver — vor allem nationaler — Identität führte, und mitbestimmt von der linken Kritik des Konsumismus hat sich in der Nachkriegszeit eine intensive Debatte über politische Identität entwickelt, die erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zum Erliegen kam. Die dem Bedürfnis nach Identität entgegengesetzte Vorstellung, man könne “kollektive Identität … heute allenfalls in den formalen Bedingungen verankert sehen, unter denen Identitätsprojektionen erzeugt und verändert werden” (Jürgen Habermas), hat sich aber sowenig als tragfähig erwiesen wie das Konzept von “Identitätskonstruktion” überhaupt.
Das hängt vor allem damit zusammen, daß trotz des offenkundigen Zerfalls tradierter Identität in der westlichen Welt sich dauernd neue Identitäten bilden. Ein Phänomen, das nicht zuletzt an der fehlenden Integrationskraft der Einwanderungsländer und der fehlenden Integrationsbereitschaft der Einwanderer abzulesen ist. Von den Jugendbanden in den Metropolen bis zur Bildung von ethnischen Brückenköpfen, von der Anziehungskraft des Islamismus bis zur Entstehung aller möglicher Subkulturen handelt es sich um Versuche, ein Empfinden von Entfremdung zu überwinden und sich der eigenen wie der Gruppen-Identität zu vergewissern und das Andere als anders auszumachen, eben weil es anders ist qua “Absenz von Assoziation” (Robert Michels).
Man kann darin auch einen Hinweis auf die feste Disposition des Menschen sehen, die ihn angesichts fehlender objektiver Bindung an eine Gemeinschaft zur Bildung von “Pseudo-Spezies” (Erik H. Erikson) trieb. Daß die Tendenz zu übertriebener Abgrenzung solcher Pseudo-Spezies — in Annahme einer totalen Identität — ebenso schädlich ist wie die vollständige Aufhebung der Scheidelinien, liegt auf der Hand.
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Zitate:
Man kann ohne Fehler sagen, daß die Gesellschaft aus dem Wir-Interesse und das Ich-Interesse aus der Gesellschaft hervorgegangen ist. — So ist also das Wir-Interesse älter, vorsozial, das Ich-Interesse jünger, sozial.Franz OppenheimerEs mag sein, daß für den Ausbruch aus der traditionellen produktiven Stagnation die atomisierte, individualisierte, regellose Massengesellschaft wesentliche Bedingung war. Aber den wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnissen der Menschen ist sie etwas zutiefst Fremdes. Wonach die Menschen wirklich verlangen, ist die Zugehörigkeit zu einer eindeutig bestimmten, abgegrenzten, symbolgestützten Gemeinschaft. Und sie haben außerdem den Wunsch, ihren bestimmten Platz in dieser Gemeinschaft einzunehmen.Ernest Gellner
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Literatur:
- Gaetano Benedetti und Louis Wiesmann (Hrsg.): Ein Inuk sein, Göttingen 1985
- Alain de Benoist: Wir und die anderen, Berlin 2008
- Samuel P. Huntington: If not Civilizations, What?, in: Foreign Affairs 72 (1993) 5, S. 186–194
- Institut für Staatspolitik (Hrsg.): Nationale Identität, Wissenschaftliche Reihe, H. 3, Schnellroda 2001
- Robert Michels: Materialien zu einer Soziologie des Fremden, in: Jahrbuch für Soziologie 1 (1925), S. 296–318
- Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften, Berlin 1979
- Bernard Willms: Die Deutsche Nation. Theorie — Lage — Zukunft, Köln-Lövenich 1982