Köthen: Sachsen-Anhalt, etwa 70 km südlich von Magdeburg

Johann Sebas­t­ian Bach wür­den die meis­ten wohl mit der Stadt Leipzig assozi­ieren, wo der Musik­er als Thomaskan­tor wirk­te, und mit Eise­nach sein­er Geburtsstadt; eventuell noch mit
Lüneb­urg als der musikalis­chen Aus­bil­dungsstätte, Arn­stadt als dem Ort sein­er ersten Organ­is­ten­stelle und Weimar, wo er fast zehn Jahre lang kom­ponierte und einige Zeit Konz­ert­meis­ter war. Doch auch die im Anhaltischen gele­gene Kle­in­stadt Köthen darf sich »Bach­stadt« nen­nen, da Johann Sebas­t­ian Bach von 1717 bis 1723, unmit­tel­bar vor sein­er Anstel­lung in Leipzig, dort Kapellmeis­ter am Hofe des Fürsten Leopold war.

Die Verehrung Bachs  als »fün­ften Evan­ge­lis­ten«, größten evan­ge­lis­chen Kirchen­musik­er und sicht­baren Aus­druck für die untrennbare Verbindung von Protes­tantismus und deutsch­er Nation
stammt aus dem 19. Jahrhun­dert, wo die geistlichen Werke Bachs wieder­ent­deckt wur­den und angesichts der akuten deutschen Frage die Suche nach ein­er spez­i­fisch nationalen Tra­di­tion auch im Bere­ich der Kun­st an Bedeu­tung gewann; bekan­nt sind hier vor allem die Wieder­auf­führung der Matthäus­pas­sion 1829 unter der Leitung von Felix Mendelssohn-Bartholdy und die sehr wirk­mächtige zweibändi­ge Bach­bi­ogra­phie von Philipp Spit­ta (1873–1879). Johann Sebas­t­ian Bach als kon­ge­nialer musikalis­ch­er Über­set­zer der lutherischen Lehre ein­er­seits, als in Leben und Werk höch­ste Leis­tung und Diszi­plin beweisender Vertreter preußis­chen Geistes ander­er­seits war – und ist bis heute – die Schlüs­selfig­ur evan­ge­lis­chdeutsch­er Kul­turgeschichte. Von Max Reger
stammt die Äußerung: »“Bachisch” sein heißt: urg­er­man­isch, unbeugsam sein.«

Köthen fällt da in der öffentlichen Wahrnehmung etwas ab, weil Bach hier vornehm­lich weltliche Instru­men­tal­musik kom­ponierte – immer­hin auch die »Bran­den­bur­gis­chen Konz­erte« sowie einen guten Teil sein­er Klavier­musik, für die er zu Lebzeit­en und unmit­tel­bar danach berühmter war als für sein kirchen­musikalis­ches Werk. Die Behaup­tung eines regel­recht­en Gegen­satzes zwis­chen dem »weltlichen« Köthen­er und dem »geistlichen« Leipziger Bach geht aber fehl, weil sie nicht nur die Bedeu­tung Köthens für Bachs musikalis­che Entwick­lung unter­schätzt, son­dern vor allem die religiöse Grundierung auch seines »weltlichen« musikalis­chen Schaf­fens. 1997 wurde die im Köthen­er Schloß unterge­brachte Bach-Gedenkstätte eröffnet, die dieses Andenken pflegt.

Bach ist zwar der bekan­nteste, aber bei weit­em nicht der einzige promi­nente »Sohn« Köthens. Zu nen­nen ist hier etwa der Bild­hauer Karl Begas, der im Auf­trag Kaiser Wil­helms II. an der Berlin­er Siege­sallee mitar­beit­ete und hier vor allem das Stand­bild Friedrich Wil­helms IV. schuf; weit­er­hin der roman­tis­che Schrift­steller und Kriegs­frei­willige der Befreiungskriege gegen Napoleon, Joseph
Frei­herr von Eichen­dorff, der in Köthen ein Haus erwarb und sich im Zuge der Rev­o­lu­tion von 1848 zeitweilig in der Stadt aufhielt.

Daß außer­dem neben vielem anderen 1617 in Köthen die »Frucht­brin­gende Gesellschaft« zur deutschen Sprach­pflege gegrün­det wurde und die Stadt 1845 zum zen­tralen Tre­ff­punkt der deutschen Ornitholo­gie wurde, als deren Begrün­der mit Johann Friedrich Nau­mann ein immer­hin nahe Köthen Geboren­er gilt, zeigt, wie sehr Köthen bis in das 19. Jahrhun­dert hinein ger­adezu eine kul­turelle (Klein-)Metropole gewe­sen ist, deren »Bun­theit« sog­ar Hein­rich von Tre­itschke auffiel. Die kul­turelle Blüte Köthens dürfte von der Annahme der Ref­or­ma­tion im 16. bis in die Mitte des 19. Jahrhun­derts reichen, die wirtschaftliche bis zum Ersten Weltkrieg; poli­tisch war die »Heim­statt der Mit­telmäßigkeit« (Gün­ther Hoppe) im Grunde immer nur von unter­ge­ord­neter Bedeu­tung. Außer »Bach­stadt« nen­nt sich Köthen zudem ganz unbeschei­den »Welthaupt­stadt der Homöopathie«. Grund dafür ist, daß deren Begrün­der, der Medi­zin­er Samuel Hah­ne­mann, in den Jahren 1821 bis 1835 in Köthen lebte, hier zum Hofrat ernan­nt wurde und die »Gesellschaft homöopathis­ch­er Ärzte« grün­dete. Schon 1796 hat­te Hah­ne­mann seine Ent­deck­ung veröf­fentlicht, daß »Ähn­lich­es durch Ähn­lich­es« geheilt wer­den könne, daß man also mit Sub­stanzen, die bei Gesun­den bes­timmte Krankheitssymp­tome aus­lösen, bei an densel­ben Symp­tomen lei­den­den
Kranken eine heil­bare Wirkung erzie­len könne. Da in der homöopathis­chen Heil­meth­ode dem Patien­ten teil­weise Hochgiftiges verabre­icht wird, ließ Hah­ne­mann die Grund­stoffe verdün­nen und leit­ete daraus schließlich ein Prinzip ab, nach dem durch mehrfache Verdün­nung eine »geistige Kraft« in den Heil­sub­stanzen freige­set­zt werde. Dieses Ver­fahren der »Hoch­poten­zierung« kann so weit getrieben wer­den, daß der Grund­stoff im fer­ti­gen Heilmit­tel nicht mehr nach­weis­bar ist. Vor allem deshalb wurde und wird die Homöopathie von der Schul­medi­zin stark ange­grif­f­en.

Köthen pflegt das Erbe Hah­ne­manns vor allem in Gestalt der 2009 ein­gerichteten Europäis­chen Bib­lio­thek für Homöopathie; auch ein Hah­ne­mann und seinem Nach­fol­ger Arthur Lutze gewid­metes Denkmal ste­ht in Köthen. Über­haupt ist die Stadt darum bemüht, die Erin­nerung an ihre kul­turelle Blütezeit aufrechtzuer­hal­ten; sog­ar die »Frucht­brin­gende Gesellschaft« wurde  2007 wiederge­grün­det. Let­ztlich aber ist Köthen wie ganz Sach­sen-Anhalt vom demographis­chen Nieder­gang des deutschen Volkes beson­ders stark betrof­fen. Trotz wieder­holter Einge­mein­dun­gen sinkt die Ein­wohn­erzahl mehr oder weniger kon­tinuier­lich und ist mit­tler­weile wieder unter 30 000 gefall­en. Solange die Kul­tur­denkmäler Köthens erhal­ten wer­den kön­nen, ist das unter den gegen­wär­ti­gen Umstän­den aber vielle­icht nicht das schlecht­este denkbare Schick­sal.

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Lit­er­atur:

  • Erich Damerow: Köthen-Anhalt. Ein deutsches Städte­bild, Berlin 1927
  • Gün­ther Hoppe u. a.: Köthen/Anhalt zwis­chen den Jahren 1115 und 1949. Vier Beiträge zur Stadt­geschichte, Köthen 1991
  • Peter Kühn/Günther Hoppe: Köthen in Anhalt. Bilder ein­er Stadt und ihrer Geschichte, Beucha 1993
  • Walther Vet­ter: Der Kapellmeis­ter Bach. Ver­such ein­er Deu­tung Bachs auf Grund seines Wirkens als Kapellmeis­ter in Köthen, Pots­dam 1950