Lehre vom Zerfall — Emil Cioran, 1953

Der rumänisch-franzö­sis­che Schrift­steller E. M. Cio­ran schrieb seine ersten Werke bis Mitte der vierziger Jahre in rumänis­ch­er Sprache; das vor­liegende Werk gehört bere­its sein­er franzö­sis­chen Epoche an. Cio­ran arbeit­ete hart an dem Manuskript und schrieb das Buch nach eige­nen Aus­sagen vier­mal, damit man nicht merken sollte, daß es von einem Aus­län­der geschrieben wurde. Noch bis Mitte der vierziger Jahre war Cio­ran ein Anhänger der Eis­er­nen Garde Codreanus gewe­sen; in seinen frühen rumänis­chen Werken seit Anfang der dreißiger Jahre wie Auf den Gipfeln der Verzwei­flung und dem Buch der Täuschun­gen find­en sich jedoch bere­its die Grund­mo­tive seines Denkens, die auch nach seinem Abschied vom poli­tis­chen Extrem­is­mus bes­tim­mend für Cio­ran blieben. So knüpft auch die Lehre vom Zer­fall in viel­er Hin­sicht an seinen Stil des »Gele­gen­heits­denkers« an.

Die exis­ten­tielle Unmit­tel­barkeit des Cio­ran­schen Denkens kommt in sein­er Abnei­gung gegen indif­fer­ente Ideen zum Aus­druck. Gegen die Fanatik­er, die Erlö­sungside­olo­gien propagieren, set­zt Cio­ran seine Welt-und Erlö­sungsvernei­n­ung; stets hat die Men­schheit »diejeni­gen ange­betet, die sie ins Verder­ben stürzten«. Bes­tial­ität ist das »Haupt­merk­mal jeglichen Erfolges in der Zeit«. Gefährlich ist die siegre­iche Idee, denn: Wo »eine Idee den Sieg davon­trägt, rollen Köpfe; denn sie kann nur siegen auf Kosten ander­er Ideen und auf Kosten der Köpfe, in denen sie ent­standen und von denen sie ver­focht­en wur­den«. Die Geschichte hat für Cio­ran keinen Sinn, sie ist ihm lediglich das blutige Resul­tat der Weigerung des Men­schen, sich zu lang­weilen. Cio­ran bejaht die Sinnlosigkeit der Geschichte, denn jede Unter­stel­lung eines Sinnes müßte dazu führen, daß man Qualen auszuste­hen hätte um der Erre­ichung eines Zieles willen, zu dessen Kosten auch unser Schweiß und unser Scheit­ern gehören wür­den.

Die Vision eines paradiesis­chen Endzu­s­tandes über­trifft in ihrer Absur­dität die schlimm­sten Verir­run­gen der Hoff­nung. Man darf diese Über­legun­gen auch als Ver­such ver­ste­hen, sich über seine eigene Fasz­i­na­tion klar zu wer­den, die er angesichts der Dik­ta­toren der dreißiger und vierziger Jahre emp­fand, so wie er auch seinen rumänis­chen Nation­al­is­mus jen­er Zeit später als Delir­i­um qual­i­fizierte.

Gegen­stand der Reflex­ion in der Lehre vom Zer­fall ist nicht zulet­zt die Dekadenz, die Cio­ran tief emp­fun­den hat. Wir leben dem­nach in einem Kli­ma der Erschöp­fung, wir sind die großen Alterss­chwachen, Tech­niker der Müdigkeit­en, denn der Baum des Lebens ist ver­dor­rt. »Auf den Fried­höfen des Geistes ruhen Prinzip­i­en und Formeln:«, so Cio­ran, »das Schöne wurde definiert – es liegt hier begraben.« Das­selbe gilt für das Wahre, das Gute, das Wis­sen und die Göt­ter.

Der Ver­fall ein­er Kul­tur begin­nt für Cio­ran in dem Moment, da das Leben zu ihrer Wah­nidee werde, denn Hochkul­turen bilden Werte nur um ihrer selb­st willen, während im Sta­di­um der Dekadenz das Leben selb­st gewollt wird. In schöpferischen Zeit­en gelingt es ein­er Kul­tur, Begriffe in Mythen umzuwan­deln; wenn aber ein­mal die Herrschaft der Ver­standesklarheit begin­nt, gilt: »Aus Mythen wer­den wieder Begriffe: die Dekadenz ist da.« Tol­er­anz, die laut Cio­ran als das höch­ste aller irdis­chen Güter gilt, ist zugle­ich auch ein Übel, an dem die Erde kranke, denn es set­zt einen »Zus­tand all­ge­mein­er Erschlaf­fung und Steril­ität« voraus, allen Mei­n­un­gen und Glauben­süberzeu­gun­gen gle­iche Gel­tung zuzus­prechen.

Cio­rans entsch­ieden anti-philosophis­ches Denkens ste­ht in der Tra­di­tion des desil­lu­sion­ieren­den Denkens, das sehen will, was ist, ohne sich über die Wirk­lichkeit zu täuschen. Dazu gehört allerd­ings auch die unhin­terge­hbare Ein­sicht, daß das Leben ohne seine Illu­sio­nen nicht denkbar und leb­bar ist. Cio­rans düstere Anti-Philoso­phie, die von Paul Celan ins Deutsche über­set­zt wurde, fand vor allem Anklang an den Rän­dern des intellek­tuellen Betriebes; so würdigte Ulrich Horstmann den rumänis­chen Schrift­steller als neuen Schopen­hauer eines präapoka­lyp­tis­chen Zeital­ters, der philosophisch zu Ende gekom­men sei. Andere haben Cio­ran als »Niet­zsche der Karpat­en« beze­ich­net – bei­de Beze­ich­nun­gen bezeu­gen, daß sich Cio­ran in der Lehre vom Zer­fall und zahlre­ichen weit­eren Essays wie z. B. Geschichte als Utopie oder  Die ver­fehlte Schöp­fung mit ein­er sel­te­nen Fol­gerichtigkeit, aber auch mit Lust an der Pro­voka­tion, am Pro­jekt der Desil­lu­sion­ierung beteiligte, das für das lib­erale und fortschrit­tliche Denken zutief­st ver­störend wirken mußte.

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Zitat:

Dekadenz bedeutet nichts weit­er als Trübung der Instink­te unter Ein­wirkung des Bewußt­seins.

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Aus­gabe:

  • 7. Auflage, Stuttgart: Klett-Cot­ta 2010

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Lit­er­atur:

  • Patrice Bol­lon: Cio­ran. Der Ket­zer, Frank­furt a. M. 2006
  • Doris Heres: Die Beziehun­gen der­franzö­sis­chen Werke Émile Cio­rans zu seinen ersten rumänis­chen Schriften, Bochum 1988
  • Bernd Mattheus: Cio­ran. Por­trait eines radikalen Skep­tik­ers, Berlin 2007