Raum

Raum beze­ich­net im poli­tis­chen Zusam­men­hang vor allem das Ter­ri­to­ri­um, das beherrscht wird. Die Bedeu­tung des Rau­maspek­ts für das Poli­tis­che unter­lag in der Geschichte zwar Schwankun­gen, der Raum war aber niemals bedeu­tungs­los. Das gilt, obwohl der Men­sch keinen »Leben­sraum« (Friedrich Ratzel) hat wie andere Lebe­we­sen. An sein­er »Ter­ri­to­ri­al­ität« ist trotz­dem nicht zu zweifeln, die ihn zur Raumbindung und dem Schutz des eige­nen Raumes gegen Ein­drin­glinge zwingt. Die mit dem Bezug auf den Raum ein­herge­hen­den Gefüh­le, vor allem die emo­tionale Bedeu­tung der Hei­ma­ter­de, auf der man lebt und in der die Vor­fahren (Erbe) bestat­tet liegen, erk­lärt etwas davon, warum die Vertei­di­gung des eige­nen Raumes gegen Feinde gemein­hin aus­sicht­sre­ich ist. Ander­er­seits hat es früh einen impe­ri­al­is­tis­chen Zug in der Men­schheits­geschichte gegeben, das heißt Ver­suche, sich fremde Räume gewalt­sam anzueignen und so den eige­nen Raum zu erweit­ern.

An Bedeu­tung gewann der Expan­sions­drang allerd­ings erst, nach­dem die men­schliche Besied­lung der Erde eine gewisse Dichte erre­icht hat­te und der Bodenbe­sitz als solch­er für Land­wirtschaft und Viehzucht an Wichtigkeit gewann. Mit den frühen Hochkul­turen ent­standen dann Macht­ge­bilde, die einen erhe­blichen Teil ihrer Kraft darauf konzen­tri­erten, Gren­zlin­ien festzule­gen und beson­ders zu schützen. Das war der Anfang eines Prozess­es, der zwar immer wieder unter­brochen wurde, aber let­ztlich zur Entste­hung des Staates im mod­er­nen Sinn führte, den man als Organ­i­sa­tion dauer­hafter Mach­tausübung über einen bes­timmten Raum definieren kann.

Die Ken­nt­nis des eige­nen Raumes und der Ver­such diese Ken­nt­nis vor poten­tiellen Fein­den zu ver­ber­gen, die wach­sende Ein­sicht in die Bedeu­tung der räum­lichen Lage für die eige­nen poli­tis­chen und mil­itärischen Hand­lungsmöglichkeit­en kennze­ich­net die Phase klas­sis­ch­er Staatlichkeit, die vom Ende des 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhun­derts reichte. Danach ver­lor der Staat an Bedeu­tung und es ent­standen neuar­tige »Reiche«, die zwar auf gewisse ältere Mit­tel der Expan­sion verzichteten – also den frem­den Raum nicht unbe­d­ingt in den eige­nen eingliederten –, aber gle­ichzeit­ig Inter­essen­sphären absteck­ten, die weit­er ges­pan­nt waren als jedes Imperi­um der Ver­gan­gen­heit. Typ­isch für dieses Vorge­hen war die Beanspruchung der »west­lichen Hemis­phäre« (mit wech­sel­nder Def­i­n­i­tion der Gren­zlin­ie) durch die USA oder die For­mulierung der »Breschnew-Dok­trin« durch die Sow­je­tu­nion.

Einige Beobachter haben in dieser Entwick­lung einen Bedeu­tungsver­lust der Rau­maspek­te der Poli­tik gese­hen, und tat­säch­lich wird man zugeben müssen, daß die von der »Geopoli­tik« als der Lehre vom Ein­fluß der Geo­gra­phie auf die Poli­tik aus­gear­beit­eten The­o­rien angesichts der tech­nis­chen Entwick­lung von Nachrichten‑, Trans­port- und Kriegsmit­teln immer weniger aus­sagekräftig waren. Die schon in der Zwis­chenkriegszeit häu­fig geäußerte Annahme, daß das Ende der Geopoli­tik gekom­men sei, war allerd­ings ver­früht. Es machte sich nur die ältere Ein­sicht wieder gel­tend, daß »Raum ohne Deu­tung des Raumes … ein Nichts« (Adolf Grabowsky) ist. Raum­fra­gen spiel­ten für die Zeit des Kalten Krieges eben­so eine Rolle wie sie eine Rolle für die heutige, die »post­amerikanis­che Welt« (Fareed Zakaria) spie­len, in der man es mit klas­sis­chen Konzepten räum­lich­er Expan­sion zu tun hat, die neben neueren Meth­o­d­en indi­rek­ter Herrschaft existieren, und auf der Mikroebene erhält der Rau­maspekt schlicht dadurch Wichtigkeit, daß die Krise des Staates auch zum Ver­lust des Gewalt­monopols und zur Entste­hung von no-go-areas geführt hat, die fak­tisch das Ende der all­ge­meinen Durch­set­zungsmöglichkeit auf einem bes­timmten Staat­ster­ri­to­ri­um sig­nal­isieren.

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Zitat:

Es mag uns höchst son­der­bar erscheinen, daß die Bindung des Mannes zu seinem Grund und Boden stärk­er sein sollte als die Bindung zu der Frau, mit der er schläft. Wir kön­nen die Stich­haltigkeit der Behaup­tung vor­läu­fig mit ein­er einzi­gen Frage erproben: Wie viele Män­ner ken­nen wir, die für ihr Land gestor­ben sind? Und wie viele star­ben für eine Frau?
Robert Ardrey

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Lit­er­atur:

  • Robert Ardrey: Adam und sein Revi­er [1966/1968], zulet­zt München 1984
  • Frank Ebel­ing: Geopoli­tik. Karl Haushofer und seine Raumwis­senschaft 1919–1945, Berlin 1994
  • Adolf Grabowsky: Staat und Raum, Welt­poli­tis­che Bücherei, Bd 1, Berlin 1928
  • Albrecht Haushofer: All­ge­meine poli­tis­che Geo­gra­phie und Geopoli­tik, Bd I nicht erschienen, Hei­del­berg 1951
  • Yves Lacoste: Geo­gra­phie und poli­tis­ches Han­deln. Per­spek­tiv­en ein­er neuen Geopoli­tik, Berlin 1990
  • Josef Matznet­ter: Poli­tis­che Geo­gra­phie, Wege der Forschung, Bd CCCXXXI, Darm­stadt 1977