Reval: Estland

Die est­nis­che Haupt­stadt Tallin, einst Reval, ist ohne Zweifel eine Reise wert. Wenn man den Weg an die östlich­ste Ost­seeküste Europas auf sich nimmt, wird man mit zahlre­ichen Ein­drück­en von ein­er Stadt belohnt, die auf den ersten Blick nur wenig Osteu­ropäis­ches an sich hat. Schon die Men­schen haben kaum slaw­is­che Züge, son­dern sehen eher wie Skan­di­navier aus, und das Stadt­bild deutet sehr stark darauf hin, daß man es hier – wie im Grunde in Prag oder Königs­berg auch – mit ein­er deutschen Stadt zu tun hat. Das hängt damit zusam­men, daß Reval seit dem 13. Jahrhun­dert zwar abwech­sel­nd unter dänis­ch­er, schwedis­ch­er und schließlich rus­sis­ch­er Herrschaft stand, aber doch durchge­hend von Deutschen ver­wal­tet und kul­turell geprägt wor­den ist. Ein Großteil der markan­ten Bauw­erke Revals – vom gotis­chen Rathaus über die Stadt­mauer bis zur Burg auf dem Domberg – ent­stand bzw. wurde vol­len­det unter der Ägide der Deutschbal­ten.

Mit diesem Begriff beze­ich­net man die Nach­fahren der­jeni­gen deutschen, meist west­fälis­chen und nieder­säch­sis­chen, Auswan­der­er, die sich seit dem 13. Jahrhun­dert im Sied­lungs­ge­bi­et der Prußen – dem heuti­gen Baltikum – nieder­ließen. Während die deutsche Ost­sied­lung seit dem 12. Jahrhun­dert nor­maler­weise friedlich ver­lief und von den Slawen auf­grund des hohen zivil­isatorischen Standes der Aussiedler oft­mals sog­ar als Entwick­lung­shil­fe begrüßt wurde, war das Baltikum ein Gegen­stand mil­itärisch­er Eroberung. Zuständig dafür war der Deutsche Orden, der nach dem Ende der Kreuz­züge auf der Suche nach einem neuen Betä­ti­gungs­feld war und dem der stau­fis­che Kaiser Friedrich II. (Cas­tel del Monte, Kyffhäuser, Paler­mo) 1226 in der Gold­bulle von Rim­i­ni das von den hei­d­nis­chen Prußen bewohnte Gebi­et zu Lehen gab. Dieses Datum markiert nicht nur den sym­bol­is­chen Beginn der Geschichte Preußens, das seinen Namen von den Prußen erhal­ten hat, son­dern auch den der baltischen als einem Teil der deutschen Geschichte.

Reval wurde als deutsche Stadt 1230 gegrün­det und war von Anfang an ein wichtiger Han­del­splatz, zuerst von Got­land aus, ab 1346 als Teil der deutschen Hanse. In jen­em Jahr verkaufte der dänis­che König, dem Est­land seit 1238 gehört hat­te, Reval an den Deutschen Orden. Bis ins 16. Jahrhun­dert erlebte die Stadt eine wirtschaftliche Blüte, da alle Waren aus Ruß­land über Reval geleit­et wer­den mußten. Als das Zaren­re­ich allmäh­lich zur poli­tis­chen Bedro­hung wurde, stellte sich das Her­zog­tum Est­land unter den Schutz des Schwedis­chen Reich­es. In Reval erhiel­ten die Deutschbal­ten umfan­gre­iche Priv­i­legien, so daß die deutsche Selb­stver­wal­tung gewahrt blieb. Erst 1710 fie­len Est­land und Liv­land infolge des Nordis­chen Krieges an Ruß­land. Dank Peter dem Großen blieb aber auch jet­zt noch eine weit­ge­hende deutschbaltische Ver­wal­tungsau­tonomie beste­hen.

Schon 1523 wurde Reval evan­ge­lisch. Das Luther­tum ist sei­ther im Baltikum fest ver­ankert gewe­sen; noch gegen Ende des 19. Jahrhun­derts, als in Deutsch­land längst erste Säku­lar­isierungser­schei­n­un­gen bemerk­bar waren und die lib­erale The­olo­gie sukzes­sive an Ein­fluß gewann, bekan­nte sich in Est­land nahezu jed­er, vor allem jed­er Pfar­rer, zu einem kon­ser­v­a­tiv­en
Luther­tum. Das hat­te seine Ursache sich­er auch darin, daß die Deutschbal­ten eine – wenn auch herrschende – eth­nis­che Min­der­heit waren, und die lutherische Lehre gehörte längst zum Kernbe­stand der eige­nen kul­turellen Iden­tität. Die war allerd­ings alles andere als selb­st­be­zo­gen; vielmehr war der Ein­fluß der Deutschbal­ten auf die gesamt­deutsche Kul­tur beson­ders im 19. Jahrhun­dert außeror­dentlich groß. Bekan­nte Gelehrte und Diplo­mat­en wie Adolf Har­nack, Julius von Eckardt, Alexan­der Graf Key­ser­ling, Jakob Johann von Uexküll und Nico­lai Hart­mann kamen aus dem Baltikum, blieben aber nicht dort, son­dern wirk­ten vornehm­lich in Deutsch­land. Auch die Uni­ver­sität im livländis­chen Dor­pat hat­te dur­chaus einen gewis­sen Rang unter den deutschen Hochschulen.

Das hohe kul­turelle Selb­st­be­wußt­sein der Deutschbal­ten führte dazu, daß sie die in der zweit­en Hälfte des 19. Jahrhun­derts an Fahrt gewin­nende Rus­si­fizierungspoli­tik des Rus­sis­chen Reich­es als beson­ders hart emp­fan­den. Das Bestreben der rus­sis­chen Führung ins­beson­dere unter Alexan­der III. und Niko­laus II., die Ver­wal­tung und die Bil­dung kon­se­quent zu zen­tral­isieren, wozu vor allem die verpflich­t­ende Ein­führung der rus­sis­chen Amts- und Unter­richtssprache gehörte, traf im Baltikum auf eine alteinge­sessene, mit Selb­stver­wal­tung­spriv­i­legien aus­ges­tat­tete deutsche Ober­schicht, die davon überzeugt war, nicht nur den Esten und Let­ten vor Ort, son­dern auch den Russen kul­turell über­legen zu sein. Tat­säch­lich kann alles heutige Gerede von deutschbaltisch­er »Rus­so­pho­bie« (Gert von Pis­tohlko­rs) und ein­er im Hin­ter­grund ste­hen­den nation­al­is­tis­chen »Kul­turträgerthe­o­rie« (Wolf­gang Wip­per­mann) nicht darüber hin­wegtäuschen, daß das  deutschbaltische Über­legen­heits­be­wußt­sein sehr gute Gründe hat­te.

Bis zur Rus­sis­chen Rev­o­lu­tion von 1905 waren alle Reste des poli­tis­chen Ein­flusses der Deutschbal­ten beseit­igt wor­den; 1904 über­nah­men die Esten die Ver­wal­tung Revals. Während des Ersten Weltkriegs stand Est­land zeitweise unter deutsch­er Besatzung, was sog­ar zu Über­legun­gen führte, das ganze Baltikum in das Deutsche Reich einzugliedern. Die Nieder­lage von 1918 machte diese Pläne zunichte, und die 1919 aufgestell­ten baltischen Freiko­rps kon­nten wenig gegen die Herrschaft der Bolschewi­ki aus­richt­en, die 1920 mit umfan­gre­ichen Enteig­nun­gen viele der übrigge­bliebe­nen Deutschbal­ten zur Auswan­derung bewogen. Als Deutsch­land 1939 im Zusam­men­hang mit dem Hitler-Stal­in-Pakt einen Umsied­lungsver­trag mit Est­land abschloß und bis 1941 über 20 000 Deutsche aus Est­land in die Reichs­ge­bi­ete umge­siedelt wur­den, war die deutsche Prä­gung Revals zu Ende. Schon 1918 war die Stadt offiziell in »Tallin« umbe­nan­nt wor­den, wie sie noch heute heißt.

Im Baltikum wurde der Auf­s­tand gegen die Sow­je­tu­nion Ende der 1980er Jahre von ein­er »sin­gen­den Rev­o­lu­tion« begleit­et. Schon daran ist erkennbar, welch hohe Bedeu­tung die Musik, vor allem der Gesang, für die nationale Iden­tität Est­lands hat. Inter­es­san­ter­weise ergibt sich genau an dieser Stelle ein möglich­er Anknüp­fungspunkt für den deutsch-est­nis­chen Aus­tausch, der lange unter dem Vor­be­halt der »Unter­drück­ung« der Esten durch die lange deutschbaltische Vorherrschaft stand. Jeden­falls gibt es in der jün­geren Gen­er­a­tion Est­lands gewisse Anze­ichen für ein ehrlich­es Inter­esse an der eige­nen Geschichte und am Aus­tausch ger­ade mit Deutsch­land, dessen prä­gende Wirkung ins­beson­dere auf musikalis­chem Gebi­et unbe­stre­it­bar ist.

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Lit­er­atur:

  • Nor­bert Angermann/Wilhelm Lenz (Hrsg.): Reval. Han­del und Wan­del vom 13. bis zum 20. Jahrhun­dert, Lüneb­urg 1997
  • Rein­hard Wit­tram: Baltische Geschichte. Die Ost­see­lande Liv­land, Est­land, Kur­land 1180–1918. Grundzüge und Durch­blicke, München 1954