Rückruf in die Geschichte — Karlheinz Weißmann, 1992

Karl­heinz Weiß­manns Rück­ruf in die Geschichte ist eine der weni­gen Pro­gramm­schriften der »Nor­mal­isierungsna­tion­al­is­ten«: So beze­ich­nete Peter Glotz jene Gruppe junger Pub­lizis­ten und Wis­senschaftler, die sich nach der Wende von 1989 um den organ­isatorisch tal­en­tierten His­torik­er Rain­er Zitel­mann gebildet hat­te. Dieses, nach sein­er Selb­st­beze­ich­nung auch als »Neue demokratis­che Rechte« agierende Net­zw­erk hat­te Schlüs­sel­po­si­tio­nen in Ver­la­gen und Zeitun­gen beset­zt und bere­it­ete eine »Gegenöf­fentlichkeit« zur dominieren­den, aber durch die Wende in Frage gestell­ten Deu­tung­shoheit der Linken in den Medi­en vor. Mit Weiß­manns Buch erhielt die Gruppe nicht nur »eine Art Pro­gramm­schrift«, son­dern legte auch ein Gespräch­sange­bot vor. Weiß­mann führte später aus, daß dies von vie­len Linken auch so ver­standen, let­ztlich aber doch als »Ver­suchung« abgelehnt wor­den sei.

Bere­its der Titel des Buch­es sig­nal­isiert eine dop­pelte Frontstel­lung: Wenn ein »Rück­ruf« notwendig war, dann sah Weiß­mann die deutsche Nation auch drei Jahre nach dem Ende der Teilung noch immer in ein­er Auswe­ich­be­we­gung, ein­er pas­siv­en Stel­lung im Wind­schat­ten der Poli­tik befaßt. Und wenn der Rück­ruf in die »Geschichte« erfol­gen sollte, so mußte es eine geben: Keines­falls kon­nte also ein »Ende der Geschichte« einge­treten sein, wie es der US-amerikanis­che Poli­tik­wis­senschaftler Fran­cis Fukuya­ma schon im Som­mer 1989 vorausah­nen wollte: Er hat­te den west­lichen Lib­er­al­is­mus als End­punkt der Entwick­lung der Men­schheit beschrieben und nach dem Ende der Block­kon­fronta­tion fol­gerichtig einen Zus­tand erre­icht gese­hen, der ein­er weit­eren geschichtlichen Verbesserung nicht mehr bedurfte.

Weiß­mann wen­det sich also zum einen mit kon­ser­v­a­tiv­er Skep­sis gegen solche »für die Geschicht­sphiloso­phie typ­is­chen Fehlschlüsse« und bringt dage­gen seine Vorstel­lung von ein­er alternieren­den Bewe­gung der Geschichte ins Spiel. Zum anderen lehnt er die von dem Bon­ner Geschicht­spro­fes­sor Karl Diet­rich Bracher vorgeschla­gene »post­na­tionale Iden­tität« (also: inter­na­tionale Ver­flocht­en­heit Deutsch­lands, Verzicht auf die volle Sou­veränität) ab und rückt statt dessen mit his­torischen und geopoli­tis­chen Argu­menten Deutsch­land ins Zen­trum ein­er Neuord­nung Europas: Die deutsche Nation müsse »Rück­sicht auf die spez­i­fis­che Mit­tel­lage« nehmen, »in die es jet­zt durch die Wiedervere­ini­gung zurück­kehrt«. Daß diese Lage stets eine prekäre war und es weit­er­hin sei, zieht sich als Leit­mo­tiv durch den Rück­ruf. Mit dem frühen Geopoli­tik­er Friedrich Ratzel beschreibt Weiß­mann sie als »in der Stärke eben­so gewaltig, wie in der Schwäche bedro­ht« und leit­et aus ihr die vor­bildliche Weltof­fen­heit, die preußis­che Organ­i­sa­tion, die leben­snotwendi­ge Vertei­di­gungs­bere­itschaft und den Ost und West ver­mit­tel­nden Geist der Deutschen ab.

Vor dieser Bestand­sauf­nahme schreibt Weiß­mann Deutsch­land eine »Brück­en­funk­tion« zu und erteilt der »Nation Europa« eine Absage: Er sieht in diesem Auflö­sungswun­sch erneut einen Fluchtre­flex, resul­tierend aus der verin­ner­licht­en Überzeu­gung der Deutschen, eine »wider­legte Nation« zu sein. Der Rück­ruf war insofern ein Weck­ruf, als er dabei helfen sollte, den Deutschen die Verza­gth­eit zu nehmen. Ihnen müsse klar sein, daß sich das »Wun­der der Wiedervere­ini­gung« nicht wieder­holen würde und daß es dem deutschen Selb­stver­ständ­nis nach eben­so unmöglich wie unwürdig sei, »ökonomisch ein Riese und poli­tisch ein Zwerg« (Hel­mut Schmidt) zu bleiben.

Die Auf­nahme des Buch­es (das zwei Aufla­gen erlebte) zeigte, daß es in sein­er Gefährlichkeit für die Linke nicht unter­schätzt wurde. Als His­torik­er bew­ertet Weiß­mann die spez­i­fisch west­deutsche Entwick­lung nach 1945 als »Anom­alie« und fordert die Deutschen zu einem his­torischen Selb­st­be­wußt­sein auf, das »man nicht länger auf die zwölf Jahre reduzieren« dürfe. Es war let­ztlich Weiß­manns Zer­ren an diesem Gän­gel­band, auf das sich seine Geg­n­er ein­schossen. Die »Neue demokratis­che Rechte« scheit­erte 1995 genau an diesem Punkt: Eine Gedenkver­anstal­tung großen Stils zum 50. Jahrestag der Kapit­u­la­tion von 1945 wurde schon im Vor­feld von den poli­tis­chen Geg­n­ern zer­schla­gen, die sich auf die Feigheit der Bürg­er­lichen ver­lassen kon­nten. So schlug der Ver­such fehl, die »geistig-moralis­che Wende« Hel­mut Kohls nachzu­holen und dem gesun­den Men­schen­ver­stand eben dieser Bürg­er­lichen Gehör zu ver­schaf­fen.

Inner­halb des bish­eri­gen Werkes von Weiß­mann nimmt sein Rück­ruf eine beson­dere Stel­lung ein: Während seine drei früheren Buchveröf­fentlichun­gen sym­bol­kundliche und reli­gion­swis­senschaftliche Fragestel­lun­gen the­ma­tisierten, war der Rück­ruf sein erstes dezi­diert poli­tis­ches Buch. Er griff dessen pro­gram­ma­tis­chen Ton immer wieder auf, vor­läu­fig zulet­zt in dem Essay Das kon­ser­v­a­tive Min­i­mum (2007).

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Zitat:

Von kleinen Kindern ken­nt man den Aber­glauben, sie seien ver­schwun­den, wenn sie sich die Augen zuhal­ten. Aber: Die Deutschen sind keine Kinder mehr.

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Lit­er­atur:

  • Insti­tut für Staat­spoli­tik (Hrsg.): Die Neue Rechte. Sinn und Gren­ze eines Begriffs, Schnell­ro­da 2005
  • Unsere Zeit kommt. Götz Kubitschek im Gespräch mit Karl­heinz Weiß­mann, Schnell­ro­da 2006