Über die Demokratie in Amerika — Alexis de Toqueville, 1835/1840

Alex­is de Toc­queville wurde 1827 zum Unter­suchungsrichter in Ver­sailles berufen. Vier Jahre später reiste er im Auf­trag der franzö­sis­chen Regierung zusam­men mit seinem Fre­und Gus­tave de Beau­mont in die USA, um sich mit dem amerikanis­chen Strafvol­lzugswe­sen ver­traut zu machen. Toc­queville nutzte die neun Monate, die er dort ver­brachte, um sich inten­siv mit den poli­tis­chen, ökonomis­chen und gesellschaftlichen Ver­hält­nis­sen in dem jun­gen Land zu beschäfti­gen und die Grund­la­gen der Demokratie unter die Lupe zu nehmen.

Nach Frankre­ich zurück­gekehrt, ver­faßte er das Buch, das zum Grund­la­gen­text seines poli­tis­chen Denkens wer­den und ihm sehr schnell Wel­truhm ein­brin­gen sollte. Der erste Band bietet eine deskrip­tive Analyse der demokratis­chen Insti­tu­tio­nen in den USA und ihrer Funk­tion­sweise. Im zweit­en Band weit­et Toc­queville seine Über­legun­gen aus und unter­sucht den Ein­fluß der Demokratie auf die Sit­ten und Bräuche, auf das Welt­bild und das Geis­tesleben ein­er Gesellschaft.

Der Lib­er­alkon­ser­v­a­tive Alex­is de Toc­queville blieb inner­lich dem Ancien régime ver­haftet, der Real­ist Alex­is de Toc­queville aber hegte kein­er­lei Sehn­sucht nach ein­er Restau­ra­tion. Ihm ging es vielmehr darum, die neuen Entwick­lun­gen sein­er Zeit im Detail zu analysieren. Die wichtig­ste unter diesen Verän­derun­gen war das Streben nach Chan­cen­gle­ich­heit, das mit der Demokratie im poli­tis­chen Sinn ein­herge­ht. Toc­queville hat­te begrif­f­en, daß diese Entwick­lung unumkehrbar war, und in der Aus­bre­itung der Demokratie sah er das unabän­der­liche Schick­sal der anbrechen­den
Ära.

Als Kennze­ichen der Neuzeit iden­ti­fizierte er die Abschaf­fung indi­vidu­eller Priv­i­legien, die rechtliche Gle­ich­stel­lung, die Ablö­sung des Statuts durch den Ver­trag und die Vere­in­heitlichung der Bedin­gun­gen – alles Züge, die er bere­its unter dem Ancien régime beobachtete. Toc­queville zeigt die Gren­zen der damit verknüpften Hoff­nun­gen auf: Gle­iche Voraus­set­zun­gen beseit­igten keineswegs wirtschaftliche Ungle­ich­heit­en, zumal die Men­schen von Natur aus ungle­ich bleiben, aber sie beförderten im kollek­tiv­en Bewußt­sein die Entste­hung eines neuar­ti­gen »Imag­inären«,
welch­es sich als enorm fol­gen­re­ich erweisen sollte. In der Gesellschaft der Neuzeit, die die Gle­ich­heit als Ide­al­norm pos­tuliert, nehmen die Men­schen ihr Los nicht mehr auf­grund ihrer famil­iären Herkun­ft oder ihrer gesellschaftlichen Stel­lung hin. Insofern ist das Gle­ich­heitsstreben untrennbar mit der neuen gesellschaftlichen Dynamik ver­bun­den: Die soziale Mobil­ität nach oben
oder unten wird zur Regel, die Bande gegen­seit­iger Abhängigkeit der einzel­nen untere­inan­der  reißen. Hinzu kommt, daß sich in der demokratis­chen Gesellschaft die kul­turellen Merk­male der ver­schiede­nen Klassen zugun­sten eines allen gemein­samen Wun­sches nach materiellem Wohl­stand ver­wis­chen.

Der homo demo­c­ra­ti­cus wird also von zwei Lei­den­schaften beherrscht: der Sehn­sucht nach Gle­ich­heit und nach Wohl­stand. Toc­queville hält dieses dop­pelte Begehren dur­chaus für legit­im, aber er weiß um die damit ver­bun­de­nen Risiken. Ins­beson­dere ist er sich der Schwierigkeit bewußt, den Wun­sch nach Frei­heit mit dem Willen zur Gle­ich­heit zu vere­in­baren. Weit­er­hin sieht er den Wider­spruch, der in der egal­itären Lei­den­schaft liegt; daß der Men­sch der Neuzeit näm­lich will, daß alle gle­ich, er sel­ber aber beson­ders ist. Schließlich glaubt er, daß das Pri­mat des
Wun­sches nach Gle­ich­heit und Sicher­heit die einzel­nen zum Verzicht auf ihre Frei­heit ver­leit­en kön­nte. Eben darin liegt sein­er Ansicht nach die größte Gefahr der neuzeitlichen Gesellschaften.

Toc­queville spricht von einem »per­versen Geschmack an der Gle­ich­heit, der dazu führt, daß die Schwachen die Starken auf ihr Niveau hin­un­terziehen wollen, und die Men­schen darauf reduziert, die Gle­ich­heit in Knechtschaft der Ungle­ich­heit in Frei­heit vorzuziehen«.

Toc­queville kri­tisiert die »Tyran­nei der Mehrheit«, vor allem aber die Auswirkun­gen der Mei­n­ungstyran­nei. Die Gesellschaft der Neuzeit, erk­lärt er, erzeugt unweiger­lich eine Kon­for­mität der Mei­n­un­gen, indem sie das Mit­tel­maß zur gesellschaftlichen Norm mache. In Ameri­ka sei diese Entwick­lung bere­its im Gang und habe zu einem Man­gel an geistiger Unab­hängigkeit und kri­tis­chem Denken geführt. Unter der­ar­ti­gen Umstän­den, befürchtet Toc­queville, wollen die Men­schen früher oder später ihre Rolle als Bürg­er nicht mehr wahrnehmen.

Toc­queville, der sel­ber aus der Nor­mandie stammte, lehnte den zen­tral­is­tis­chen Jakobin­is­mus entsch­ieden ab und sah das poli­tis­che Heil statt dessen in den corps inter­mé­di­aires. An den USA schätzte er die Rolle, die Gemein­schaften ver­schieden­ster Art dort im öffentlichen Leben spiel­ten, sowie das ver­bre­it­ete Miß­trauen gegen den Staat. Von diesen Beobach­tun­gen inspiri­ert,
set­zte er auf die wach­sende Bedeu­tung von Vere­inen, Berufsver­bän­den und anderen Zusam­men­schlüssen. In seinem Buch, das sei nur neben­bei bemerkt, sagt er die Entste­hung von zwei Super­mächt­en – Ruß­land und den USA – voraus, die eines Tages die Welt zwis­chen sich aufteilen kön­nten.

Nir­gends ist Toc­queville so viel gele­sen wor­den wie in den USA. Sein Buch war dort von Anfang an unge­heuer pop­ulär und wurde – in zahlre­ichen unter­schiedlichen Aus­gaben und Über­set­zun­gen – schnell zum Stan­dard­w­erk der Poli­tik­wis­senschaft; dies trotz der scharf­sin­ni­gen Kri­tik, die Toc­queville an den amerikanis­chen Ver­hält­nis­sen äußert. In Deutsch­land fand es sehr bald promi­nente Leser, darunter Georg Sim­mel, Jacob Bur­ck­hardt, Fer­di­nand Tön­nies, Max Weber oder Wil­helm Dilthey. Umfan­gre­iche Auszüge daraus wur­den bere­its 1836 veröf­fentlicht; die
erste voll­ständi­ge Über­set­zung aber ent­stand erst 1959 und wurde von Jacob Peter May­er, Theodor Eschen­burg und Hans Zbinden besorgt.

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Zitat:

Ich sehe eine unzählbare Menge von gle­ich­berechtigten, einan­der zum Ver­wech­seln ähnel­nden Men­schen, die sich ruh­e­los um sich sel­ber drehen, um sich kleine vul­gäre Freuden zu ver­schaf­fen, mit denen sie ihre Seele füllen … Ich lasse meinen Blick über jene unzählbare Menge schweifen, die aus gle­ichen Wesen beste­ht, wo nichts höher oder niedriger ist als alles andere. Der Anblick dieser uni­versellen Uni­for­mität macht mich trau­rig und läßt mich frösteln, und ich bin ver­sucht, der Gesellschaft hin­ter­herzu­trauern, die ein­mal war.

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Aus­gabe:

  • Taschen­buch, aus dem Franzö­sis­chen über­tra­gen von Hans Zbinden, München: dtv 1984

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Lit­er­atur:

  • Ray­mond Boudon: Toc­queville aujourd’€™hui, Paris 2005
  • Arnaud Coutant: Toc­queville et la con­sti­tu­tion démoc­ra­tique, Paris 2008
  • Pierre Manent: Toc­queville et la nature de la démoc­ra­tie, Paris 1993