Über die Gewalt — Georges Sorel, 1908

Georges Sorel will in keine Schublade passen. Als junger Mann war er stark bee­in­flußt von der Philoso­phie Bergsons und dem Denken Pierre-Joseph Proud­hons, aber auch von eini­gen Werken Niet­zsches. 1893 wurde er Marx­ist, ergriff in der großen Debat­te der Jahrhun­der­twende Partei für Eduard Bern­stein gegen Karl Kaut­sky und entwick­elte sich ab 1905 zum Vor­denker des von Fer­nand Pell­outi­er begrün­de­ten rev­o­lu­tionären Syn­dikalis­mus. Zusam­men mit seinem Fre­und Edouard Berth ini­ti­ierte er zur sel­ben Zeit einen Dia­log mit den jun­gen Roy­al­is­ten, die sich im Cer­cle Proud­hon um Georges Val­ois ver­sam­melten. Der »heili­gen Union« von 1914 brachte er tiefe Abscheu ent­ge­gen, ver­dammte den Krieg und begrüßte die Rus­sis­che Rev­o­lu­tion.

Über die Gewalt ist eine Vertei­di­gungss­chrift zugun­sten der Ideen des rev­o­lu­tionären Syn­dikalis­mus, der 1906 mit der Annahme der Char­ta von Amiens durch die Con­fédéra­tion générale du tra­vail (CGT) seinen endgülti­gen Durch­bruch erlebt zu haben schien. Das Buch ist in sieben Kapi­tel unterteilt, hinzu kom­men drei Anhänge und ein Brief von Daniel Halévy zur Ein­leitung. Es beruht auf ein­er Artikelserie, die Sorel ab Jan­u­ar 1906 in Hubert Lagardelles Zeitschrift Le Mou­ve­ment social­iste (und später in der ital­ienis­chen Zeitschrift Il Divenire sociale) veröf­fentlichte. Ab 1920 enthiel­ten Neuau­fla­gen auch den berühmten Text »Für Lenin«, den Sorel einige Jahre vor seinem Tod ver­faßte.

Der Anti-Etatist und Anti-Jakobin­er Sorel ver­ficht eine Vorstel­lung der gesellschaftlichen Wirk­lichkeit, die pes­simistisch und hero­isch zugle­ich ist. Mit der Fortschrittside­olo­gie hat er gebrochen; ihr Deter­min­is­mus und Opti­mis­mus scheinen ihm inakzept­abel für die Arbeit­er­be­we­gung. Die Demokratie als »poli­tis­che Form des Bürg­er­tums« lehnt er eben­falls ab. »Die größte Bedro­hung für den Syn­dikalis­mus«, erk­lärt er, »wäre jeglich­er Ver­such, die Demokratie zu imi­tieren. « Die Arbeit­er­be­we­gung fordert er auf, Dis­tanz zu den poli­tis­chen Parteien zu wahren und sich statt dessen gew­erkschaftlich zu organ­isieren. Auch den Paz­i­fis­mus mit seinen »human­itären Platitü­den« müsse die Arbeit­erk­lasse ver­w­er­fen: »Die rev­o­lu­tionären Gew­erkschaften durch­denken die sozial­is­tis­che Aktion in genau der­sel­ben Weise, wie Mil­itärstrate­gen den Krieg durch­denken … Sie sehen in jedem Streik eine Imi­ta­tion im kleinen, einen Ver­such, eine Vor­bere­itung auf den großen finalen Umsturz.« Der einzige erfol­gver­sprechende Weg führe also über die direk­te Aktion.

Man darf diese Apolo­gie der Gewalt nicht mißver­ste­hen. Sorel sel­ber tren­nte sorgfältig zwis­chen der Gewalt der Arbeit­erk­lasse und jen­er der jakobinis­chen Rev­o­lu­tionäre: »Man darf die Gewalt­tat­en, die im Zuge der Streiks von Pro­le­tari­ern began­gen wer­den, um den Staat zu stürzen, nicht mit den Akten der Bru­tal­ität ver­wech­seln, zu denen der Aber­glaube an den Staat die Rev­o­lu­tionäre von 1793 bewegte.«

Als legit­im definiert Sorel die Gewalt (vio­lence), die sich gegen die staatliche Macht (force) richtet: »Macht zielt darauf ab, eine bes­timmte gesellschaftliche Ord­nung zu erzwin­gen, in der eine Min­der­heit regiert, während Gewalt diese Ord­nung zer­stören will. Seit Beginn der Neuzeit hat das Bürg­er­tum Macht einge­set­zt, während das Pro­le­tari­at nun dage­gen und gegen das Bürg­er­tum mit Gewalt reagiert.« Den großen Vorzug der pro­le­tarischen Gewalt sieht Sorel darin, daß sie die Arbeit­er­be­we­gung daran hin­dere, dem Reformis­mus zu ver­fall­en, und den Bürg­ern »die rev­o­lu­tionäre Real­ität« zeige.

Konkret emp­fiehlt Sorel die Tak­tik des Gen­er­al­streiks, dessen »Deut­lichkeit« er begrüßt. Seine Formel vom »Mobil­isierungsmythos « erin­nert an Bergsons Anmerkun­gen zur Macht gedanklich­er Repräsen­ta­tio­nen von Ereignis­sen und deren direk­te Ein­wirkung auf die Wirk­lichkeit: »Der Gen­er­al­streik ist genau das, was ich gefordert habe: der Mythos, der den Sozial­is­mus in sein­er Gesamtheit erfaßt, d. h. eine Anord­nung von Bildern, die instink­tiv sämtliche Gefüh­le zu beschwören ver­mö­gen, die den unter­schiedlichen Aus­drucks­for­men des Krieges entsprechen, den der Sozial­is­mus gegen die mod­erne Gesellschaft führt.«

Über die Gewalt ist ein anti­demokratis­ches, ein rev­o­lu­tionäres Werk, dessen Ein­fluß auf die Linke wie auf die Rechte, auf so unter­schiedliche Denker und Män­ner der Tat wie Ben­i­to Mus­soli­ni, Anto­nio Gram­sci, Arturo Labri­o­la, Curzio Mala­parte, Georg Lukács oder Wal­ter Ben­jamin außeror­dentlich war. Dieser Ein­fluß reichte bis nach Peru (José Car­los Mar­iátegui) und nach Syrien (Michel Aflaq), am deut­lich­sten war er jedoch in Ital­ien zu spüren, wo Sorel zu Lebzeit­en noch mehr gele­sen und veröf­fentlicht wurde als in Frankre­ich. Autoren wie Zeev Stern­hell gin­gen soweit, in ihm den »Begrün­der« des Faschis­mus zu sehen, was stark über­trieben ist. Richtig ist, daß einige Führer der rev­o­lu­tionären ital­ienis­chen Gew­erkschafts­be­we­gung – aber längst nicht alle – sich in den zwanziger Jahren Mus­soli­n­is Bewe­gung anschlossen. Lenin, laut Sorel der »größte The­o­retik­er, den der Sozial­is­mus seit Marx gehabt hat«, nan­nte ihn zum Dank einen »Wirrkopf«.

– — –

Zitat:

Solange der Sozial­is­mus eine Dok­trin bleibt, die allein in Worten ihren Aus­druck find­et, läßt er sich sehr leicht in die Bah­nen eines juste milieu umlenken, aber diese Umwand­lung wird ein­deutig unmöglich, wenn man den Mythos des Gen­er­al­streiks ein­führt, der eine absolute Rev­o­lu­tion bein­hal­tet … Die Idee des Gen­er­al­streiks, ver­stärkt durch die Gefüh­le, die die pro­le­tarische Gewalt aus­löst, erzeugt einen gän­zlich stür­mis­chen Geis­teszu­s­tand und set­zt sämtliche Kräfte der Seele frei.

– — –

Aus­gabe:

  • Über­set­zung und tex­tkri­tis­che wis­senschaftliche Edi­tion von Alexan­der Bolz, Lüneb­urg: Albech 2007

– — –

Lit­er­atur:

  • Julien Fre­und: Georges Sorel, 1847–1922. Geistige Biogra­phie, München 1977
  • Jacques Julliard/Shlomo Sand (Hrsg.): Georges Sorel en son temps, Paris 1985
  • Armin Mohler: Georges Sorel. Erz­vater der Kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion, Bad Vil­bel 2000