Urmensch und Spätkultur — Arnold Gehlen, 1956

Selb­st der Gehlen feindlich gesin­nte Wolf Lep­e­nies hat Urmen­sch und Spätkul­tur unter die »Meis­ter­w­erke der Anthro­polo­gie« gezählt. Ein Urteil, das aber nicht auf intimer Ken­nt­nis des Buch­es beruht, das über­haupt zu den am wenig­sten rezip­ierten Arnold Gehlens gehört. Ein Grund dafür ist, daß Gehlen hier am weitesten von der son­st angestrebten Leichtigkeit der Darstel­lung und des Stils ent­fer­nt blieb und teil­weise sehr kom­plizierte Argu­men­ta­tion­slin­ien entwick­eln mußte.

An deren Anfang stand eine gewisse Selb­stko­r­rek­tur in bezug auf Der Men­sch, weil es im Zusam­men­hang der Anthro­polo­gie notwendig gewe­sen war, den Men­schen als solchen – als »Robin­son« sagt Gehlen – zu behan­deln, in ein­er Iso­la­tion, die dem Men­schen als sozialem Wesen nicht gerecht wer­den kann. Außer­dem erschien hier die Entste­hung der Insti­tu­tio­nen als notwendi­ge Folge der natür­lichen Schwächen und der Instink­tun­sicher­heit von homo sapi­ens. Demge­genüber spricht Gehlen in Urmen­sch und Spätkul­tur aus­drück­lich nicht von ein­er primären, son­dern von ein­er »sekundären objek­tiv­en Zweck­mäßigkeit« der Insti­tu­tio­nen, die sich nicht hin­re­ichend ver­ste­hen lasse aus ihrer Nüt­zlichkeit und der son­st beton­ten »Entlastungs«-Funktion.

Das Geheim­nis aller funk­tion­ieren­den Insti­tu­tio­nen ist nicht oder nicht nur Ent­las­tung, son­dern »sta­bil­isierte Affek­tspan­nung«, d. h. in bezug auf alle entschei­den­den Aspek­te men­schlich­er Exis­tenz – Sorge, Sex­u­al­ität, Kampf – entste­hen Ord­nungssys­teme, in denen das Angst­be­set­zte nicht ein­fach als aufge­hoben oder besiegt oder nicht mehr vorhan­den betra­chtet, son­dern regelmäßig aufgerufen, präsen­tiert, verge­gen­wär­tigt wird, um den Affekt nicht erlah­men zu lassen.

Am Anfang der men­schlichen Geschichte hat die Reli­gion bewirkt, daß diese Span­nung aufrechter­hal­ten blieb: Die Göt­ter gaben Jagder­folg oder gute Ernte, aber sie kon­nten das eine wie das andere ver­weigern, wenn die kul­tischen Regeln ver­let­zt wur­den; sie garantieren auch die Ein­hal­tung von Heirat­sregeln und die Organ­i­sa­tion von Alter­sklassen, dämmten mit Strafen die destruk­tiv­en Ten­den­zen  des Geschlechtlichen ein, ohne daß der ele­mentare Impuls zur Übertre­tung damit voll­ständig ver­schwände, schließlich wurde der Krieg als etwas betra­chtet, das ein­er­seits bedrohlich und furchte­in­flößend war, weil das eigene Leben auf dem Spiel stand, ander­er­seits die Möglichkeit zu Selb­stüber­schre­itung und Enthem­mung bot.

Während für die Men­schen Insti­tu­tio­nen als göt­tliche Stiftun­gen gal­ten, sah Gehlen auch ihre »theogo­nis­che« Kraft, jeden­falls beruhte die außeror­dentliche Wand­lungs- und Anpas­sungs­fähigkeit der Insti­tu­tio­nen wesentlich auf der Vorstel­lung, daß sich ein Gestalt­wan­del der Göt­ter mit dem Gestalt­wan­del der Ver­fas­sung vol­l­zog.

Auf­grund dieses ele­mentaren Zusam­men­hangs mußten die Insti­tu­tio­nen in der Neuzeit in eine schwere Krise ger­at­en. Eine Krise, die sich von früheren durch ihren fun­da­men­tal­en Charak­ter unter­schied, denn die Säku­lar­isierung und der mod­erne »Sub­jek­tivis­mus« zer­stören den Zusam­men­hang von Glauben und Insti­tu­tion und führen zu jen­er Labil­ität, die für die »Spätkul­tur« kennze­ich­nend ist, der es nicht mehr gelingt, »Überde­ter­miniertheit« zu ver­bür­gen, die notwendig ist, um die Insti­tu­tio­nen auf Dauer zu stellen, und Dauer ist nach Gehlen das eigentliche Ziel der Insti­tu­tion.

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Zitat:

Der Bestand ein­er jeden Kul­tur ist nur dann gesichert, wenn ein … Unter­bau gewohn­heitsmäßi­gen, auf Außen­s­teuerung abgestell­ten Ver­hal­tens vorhan­den ist, auch wenn dieses damit notwendig for­mal­isiert wird. Diese Wahrheit ist dem mod­er­nen Sub­jek­tivis­mus anstößig, aber ger­ade er bedro­ht das Dasein der Insti­tu­tio­nen selb­st. Kul­tur ist ihrem Wesen nach ein über Jahrhun­derte gehen­des Her­ausar­beit­en von hohen Gedanken und Entschei­dun­gen, aber auch ein Umgießen dieser Inhalte zu fes­ten For­men, so daß sie jet­zt, gle­ichgültig gegen die geringe Kapaz­ität der kleinen See­len, weit­erg­ere­icht wer­den kön­nen, um nicht nur die Zeit, son­dern auch die Men­schen zu über­ste­hen.

 

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Aus­gabe:

  • 6., erweit­erte Auflage, Frank­furt a. M.: Kloster­mann 2004

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Lit­er­atur:

  • Karl­heinz Weiß­mann: Arnold Gehlen. Vor­denker eines neuen Real­is­mus, Schnell­ro­da ²2004