Verdun — Nordostfrankreich

Die Fes­tungsstadt Ver­dun (dt. Wirten) an der Maas liegt unge­fähr hal­ben Wegs zwis­chen Paris und der deutschen Gren­ze. Die ost­wärts der Stadt auf­streben­den Höhen über­ragt seit den zwanziger Jahren der wei­tum sicht­bare weiße Turm des Bein­haus­es auf dem Douau­mont. Vor jen­em Bein­haus erstreck­en sich heute die unüberse­hbaren Grabrei­hen der franzö­sis­chen Gefal­l­enen der Schlacht mit ihren hellen Kreuzen. Von dort schweift der Blick nach Osten über die zertrüm­merten Anla­gen der Forts Douau­mont und Vaux in Rich­tung ɉtain und in die Woevre-Ebene, während sich rück­wärts des eige­nen Stan­dorts im tiefeingeschnit­ten Tal der Maas die Stadt Ver­dun, mit ihren heute knapp 20 000 Ein­wohn­ern, den Augen des Betra­chters entzieht. Weit­er west­lich erstreckt sich ein eher flach­es Gelände mit Wiesen und Feldern in Rich­tung Paris. Nur die eingewach­se­nen Kup­pen der kleinen Hügel auf dem linken Maa­sufer lassen noch daran denken, daß sich darunter die Forts der Befes­ti­gun­gen west­lich der Maas befind­en.

Von den Höhen der »Cotes Lor­raines« aus erfaßt selb­st der mil­itärisch unge­bildete Betra­chter die her­aus­ra­gende Bedeu­tung jenes Gelän­des im Augen­blick. Als im Früh­jahr und Som­mer 1916 deutsche und franzö­sis­che Trup­pen um jeden Fußbre­it dieses Bodens rangen, trat Ver­dun erneut ins his­torische Ram­p­en­licht, das die Stadt let­zt­ma­lig im Jahre 843 beschienen hat­te. Ver­dun rückt min­destens dreimal in den his­torischen Fokus: 843 – mit dem Ver­trag von Ver­dun, 1916 als Oper­a­tions­ge­bi­et ein­er der blutig­sten Schlacht­en des Ersten Weltkriegs und 1984 als Ort der sym­bol­trächti­gen »réc­on­cil­i­a­tion par-dessus les tombes« zwis­chen Deutschen und Fran­zosen, zwis­chen Kohl und Mit­ter­rand. Es schlossen die Enkel Karls des Großen im Jahre 843 in der Bischof­sstadt an der Maas den Ver­trag von Ver­dun, der fürder­hin die Macht­bere­iche der fränkischen Teil­re­iche voneinan­der schied und von dem die Eigen­ständigkeit nach­mals deutsch­er und franzö­sis­ch­er Geschichte einen Aus­gang nahm. Bald 600 Jahre lag die Stadt in Lothrin­gen im Halb­schat­ten der Geschichte, bevor sie 1552 mit dem Ver­trag von Cham­bord und mit den Bes­tim­mungen des West­fälis­chen Friedens von 1648 endgültig franzö­sisch wurde. Indes eine franzö­sis­che Gren­zs­tadt, deren Geschichte immer zugle­ich die der Fes­tung war. Schon 1552 begann der Aus­bau der Zitadelle, die noch heute das Zen­trum der Stadt bildet und deren urbane Entwick­lung eher hemmt als fördert. Ihr ver­lieh Vauban Gestalt, bevor sie, zwis­chen­zeitlich mar­gin­al­isiert, nach den Gren­zverän­derun­gen von 1870 und dem Ver­lust der Fes­tung Metz für Frankre­ich wieder strate­gis­che Bedeu­tung erlangte. Séré de Riv­ières erweit­erte sie über den engen Bere­ich des Maastals hin­aus und machte sie zu ein­er mod­er­nen Gürtelfes­tung, die mit ihren mehr als 20 Außen­forts und 40 Zwis­chen­werken (Ouvrages) for­t­an dem deutschen Angreifer den Weg nach Paris ver­legen sollte.

Die Namen der Forts Douau­mont und Vaux, der »Höhe 304« oder des »Toten Mannes« avancierten später zu wesentlichen Topoi der deutschen (und franzö­sis­chen) Erin­nerungslit­er­atur nach dem Weltkrieg. Zahlre­iche Buchti­tel der Zwis­chenkriegszeit nehmen auf diese Ort­sna­men Bezug – Gespen­ster am Toten Mann von Paul Ettighof­fer sei hier nur als ein Beispiel genan­nt. Aber welch­es sind die wesentlichen Ereignisse des Jahres 1916? Nach­dem der Bewe­gungskrieg schon im Herb­st 1914 zum Erliegen gekom­men und eine durch­laufende Frontlin­ie von Flan­dern bis zur Schweiz­er Gren­ze ent­standen war, sank der Wert der Fes­tun­gen. Die Beispiele von Manonviller oder Lüt­tich belegten ver­meintlich, daß Fes­tun­gen den Anforderun­gen des mod­er­nen Kriegs nicht mehr entsprachen, so desarmierte man sie zum Teil und zog große Teile der Trup­pen und Geschützausstat­tung ab – auch in Ver­dun.

Im Jahre 1915 stellte die deutsche Ober­ste Heeresleitung Über­legun­gen an, wie Frankre­ich zu schla­gen sei. Diese fan­den papiere­nen Nieder­schlag in der – von den His­torik­ern kon­tro­vers disku­tierten – »Wei­h­nachts­denkschrift« des Chefs der Ober­sten Heeresleitung (OHL), Gen­er­als Erich von Falken­hayn, der forderte, man müsse Frankre­ich an ein­er Stelle angreifen, wo es sich um jeden Preis bis zum »Aus­bluten« vertei­di­gen werde. Falken­hayn nan­nte dies die »Offen­sive in der Defen­sive«; dieser lag der Gedanke zugrunde, Frankre­ich ein Schlüs­sel­gelände zu nehmen, das zurück­zugewin­nen Frankre­ich per­son­ell der­art fordern werde, daß seine mil­itärische Kraft erlahme. Falken­hayn unter­stellte ein Ver­hält­nis der Ver­luste von 3:5, bei dem der gewün­schte Effekt ein­treten könne. Die Wahl des geeigneten Oper­a­tions­ge­bi­ets fiel auf die Fes­tungsre­gion Ver­dun. Diese bildete einen exponierten Frontvor­sprung und einen der Dreh- und Angelpunk­te der franzö­sis­chen Ost­front, der also um jeden Preis gehal­ten wer­den mußte.

Die Dimen­sion des gedeck­ten Auf­marschs, die Wirkung der mörderischen Artillerievor­bere­itung, der ver­lus­tre­iche Kampf um jeden Meter Bodens, das stille Helden­tum und der schweigende Tod
im Nie­mand­s­land kön­nen hier nicht geschildert wer­den. Mit wach­sender Inten­sität absorbierte Ver­dun immer größere Ressourcen des deutschen Heeres, was den­noch nicht ver­hin­derte, daß der Vor­marsch auf die Fes­tung nach weni­gen Tagen bere­its stock­te und bis in den Som­mer hinein – trotz des Ein­satzes aller erden­klich­er Kampfmit­tel – nicht mehr in Gang kam. Doch der Mech­a­nis­mus der Blut­pumpe funk­tion­ierte. Auf den Höhen um Ver­dun klet­terten die Ver­lustz­if­fern bei­der Seit­en schließlich auf rund 500 000 Mann, wobei unter Ver­lus­ten nicht nur Gefal­l­ene zu ver­ste­hen sind.

Auf franzö­sis­ch­er Seite war es Gen­er­al Pétain, der als der Sieger von Ver­dun galt, nach­dem in der zweit­en Hälfte des Jahres 1916 die ursprünglichen deutschen Gelän­degewinne wieder ver­lorenge­gan­gen waren und Frankre­ich am 15. Dezem­ber 1916 das Ende der Schlacht erk­lärte.

Ver­dun war daher im Jahre 1984 zum sym­bol­trächti­gen Ort der deutsch-franzö­sis­chen Aussöh­nung auserko­ren, als Hel­mut Kohl und Fran­cois Mit­ter­rand sich über einem mit den Fah­nen bei­der Län­der bedeck­ten Sarg die Hände reicht­en. Falken­hayns Leitgedanke, »Frankre­ich auszubluten«, markiert, ähn­lich wie das britis­che Mas­sak­er an der Somme, einen Tief­punkt des oper­a­tiv­en Denkens im Ersten Weltkrieg. Er ist zugle­ich der Offen­barung­seid ein­er mil­itärischen Führungskun­st, der das raum­greifende Operieren zugun­sten des frontal­en Abrin­gens im gesicht­slosen und indus­triellen Massenkrieg abhan­den gekom­men war. Falken­hayns Gle­ichung ging schließlich nicht auf. Es blieb der Mythos vom Kreuzweg ein­er Gen­er­a­tion vor Ver­dun, gepflegt von den Vet­er­a­nen bei­der Seit­en.

Wie sehr schon die Zeitgenossen Ver­dun als etwas Außeror­dentlich­es betra­chteten, illus­tri­eren Beze­ich­nun­gen wie die »Blut­müh­le an der Maas« oder die »Blut­pumpe«, die dem Sprachge­brauch des Grabens bei­der Seit­en entstam­men. Im Gegen­satz zur franzö­sis­chen Seite, die ihre Trup­pen in rel­a­tiv kurzen Inter­vallen aus dem Feuer nahm und auf­frischte, bran­nten die deutschen Divi­sio­nen im Ein­satz zumeist völ­lig aus. Die Fol­gen für die Moral der Truppe waren immens, denn es zer­brach im deutschen Heer nicht nur das Zutrauen in die eigene Kraft und Leis­tungs­fähigkeit, son­dern zudem das bish­er uner­schüt­terte Ver­trauen in die eigene Führung. Für Frankre­ich hinge­gen verkör­perten Schlacht und Ort den Geist des unge­broch­enen nationalen Wider­standswil­lens im Kriege.

Trotz des Sieges an der Maas im Jahre 1916 geri­et Ver­dun zum Fatum Frankre­ichs im Zweit­en Weltkrieg, denn es war u. a. der Sieger von Ver­dun, Marschall Pétain, und seine Gen­er­a­tion, zu der auch der spätere Kriegsmin­is­ter Mag­inot – eben­falls ein Ver­dun-Kämpfer – gehörte, die aus dem mythisch über­höht­en Sieg von Ver­dun die falschen Lehren zogen. Während in Deutsch­land auf­grund der Nieder­lage ein per­son­elles und intellek­tuelles Revire­ment stat­tfand, ver­har­rte Frankre­ich im oper­a­tiv­en Denken, das vor Ver­dun so erfol­gre­ich war. Und so schuf Frankre­ich mit der »Mag­inot-Lin­ie« sein Über-Ver­dun, mit dem es sich ein für alle­mal gegen den Angriff aus dem Osten gewapp­net glaubte. Doch über­wand der oper­a­tive Geist des Jahres 1940 die betonierte Erstar­rung Frankre­ichs, als mit dem Panz­er­stoß durch die Arden­nen und dem Maasüber­gang bei Sedan Frankre­ichs Defen­siv-Kalkül zer­barst.

Mit dem Mémo­r­i­al von Fleury, dem Bein­haus auf dem Douau­mont, den Resten der Forts Douau­mont und Vaux und schließlich der Citadelle Souter­rain in der Stadt selb­st, bietet Ver­dun reich­liche Zeug­nisse sein­er belebten Geschichte, die dem Besuch­er einen nachvol­lziehbaren Ein­druck vom sein­erzeit­i­gen Geschehen ver­mit­teln. Noch heute trägt die Land­schaft ost­wärts der Maas die Nar­ben des Krieges, zeu­gen die Namen der zer­störten Dör­fer »vil­lages détru­its«, allen voran Fleury-devant-Douau­mont, in der »zone rouge« von der Gewalt der Mate­ri­alschlacht – entsprechend behauptet Ver­dun im Gedenkkalen­der Frankre­ichs seinen hohen Rang, in Deutsch­land ist dies deut­lich weniger der Fall.

Ver­dun, die Blut­müh­le an der Maas, fand 30 Jahre später ein Pen­dant an der Wol­ga, und der Name Stal­in­grad hin­ter­ließ nicht min­der tiefe Furchen im kollek­tiv­en Gedächt­nis der Deutschen nach dem Zweit­en Weltkrieg als Ver­dun infolge des Ersten.

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Lit­er­atur:

  • Hol­ger Affler­bach: Falken­hayn, München 1994, S. 351–457
  • Gerd Krume­ich: Der Men­sch als Mate­r­i­al – Ver­dun 21. Feb­ru­ar bis 9. Sep­tem­ber 1916, in: Stig Förster/Markus Pöhlmann/Dierk Wal­ter (Hrsg.): Schlacht­en der Welt­geschichte, München 2001, S. 295–305
  • Horst Rhode/Robert Ostrowsky: Mil­itärgeschichtlich­er Reise­führer Ver­dun, Herford/ Bonn 1992
  • Her­rmann Wendt: Ver­dun 1916. Der Angriff Falken­hayns auf das Maas­ge­bi­et als strate­gis­ches Prob­lem, Berlin 1931
  • Ger­man Werth: Ver­dun. Die Schlacht und ihr Mythos, Ber­gisch Glad­bach 1984