Verkappte Religionen — Christian Bry, 1924

Daß die »Ent­frem­dung« des Men­schen etwas ist, daß über­wun­den wer­den kann, ist eine Vorstel­lung, die untrennbar mit der Neuzeit ver­bun­den ist. Während sich diese Hoff­nung in ruhi­gen Zeit­en auf einige wenige Gläu­bige beschränkt, hat sie in der Krise Kon­junk­tur. Seit der ver­stärk­ten Indus­tri­al­isierung und der Reich­seini­gung von 1871 wurde in Deutsch­land die Suche
nach alter­na­tiv­en Lebensen­twür­fen beson­ders inten­siv betrieben. Nach der Nieder­lage im Ersten Weltkrieg und der damit ein­herge­hen­den wirtschaftlichen Krise bekam diese leben­sre­formerische Suche eine poli­tis­che Schlag­seite, die ihre Ten­denz zu Heil­slehre und Ver­schwörungs­the­o­rie ver­schärfte: Eine Ver­schwörung hat­te den Men­schen aus den echt­en und ihm eigentlich angemesse­nen Zusam­men­hän­gen geris­sen und ver­hin­derte seine Rück­kehr dor­thin.

Die ver­schiede­nen Lösungsan­sätze für diese mißliche Lage des Men­schengeschlechts beze­ich­net der Jour­nal­ist und Ver­leger Carl Chris­t­ian Bry (eigentlich Carl Decke) als »verkappte Reli­gio­nen«. Er nen­nt ihre Anhänger »Hin­ter­weltler«, weil sie an etwas glauben, das hin­ter der Welt liegt: »Hin­ter deinem gewöhn­lichen Leben und hin­ter der gewöhn­lichen Welt liegt etwas bish­er Ver­bor­genes, etwas zwar seit langem Geah­ntes, aber für uns nie Ver­wirk­licht­es, eine noch nie real­isierte Möglichkeit, der wir beikom­men wollen und beizukom­men ger­ade im Begriff sind.« Der
Fromme hinge­gen, so Bry, glaubt an ein jen­seit­iges Reich, das vom Dies­seits streng getren­nt ist. Der Hin­ter­weltler sieht einen engen Zusam­men­hang zwis­chen Welt und Hin­ter­welt und glaubt, daß diese die eigentliche Welt ist, die eines Tages, der Ver­schwörung zum Trotz, die ent­fremdete Welt besiegen wird.

Bry macht zwei struk­turelle Merk­male der verkappten Reli­gio­nen aus, die darüber entschei­den, ob es sich um Reli­gion oder eben eine verkappte Reli­gion han­delt. Das erste ist die »Mono­manie«, mit der die verkappte Reli­gion behauptet, daß die ent­fremdete Welt aus einem Punkt zu heilen ist. Die Welt wird klein, und alles in ihr Vork­om­mende ist nur noch Beleg für die eigene Mei­n­ung, die auch bei ent­ge­gen­ste­hen­den Tat­sachen Bestä­ti­gung find­et. Das zweite Merk­mal ist, daß die verkappten Reli­gio­nen auch allum­fassende Sys­teme sein wollen, die den »beschei­den­sten Gedanken« zur Weltan­schau­ung erheben und damit die ganze Welt im Lichte dieses Punk­te erscheinen lassen. Bry nen­nt diese Eigen­schaft »Ele­phan­ti­a­sis«.

In den drei Teilen des Buch­es unter­sucht Bry ver­schieden­ste verkappte Reli­gio­nen. Der erste Teil ste­ht unter der Über­schrift »Hero­is­che Hin­ter­weltler« und behan­delt die ver­gan­gen­heits­be­zo­ge­nen bzw. die »rechts gewach­se­nen verkappten Reli­gio­nen«. Unter »Flucht in die Zukun­ft« ver­ste­ht er utopis­che Weltan­schau­un­gen, die ihren Ursprung im linken
poli­tis­chen Spek­trum haben. Und schließlich sind unter »Zeichen­deuter und Freibeuter« verkappte Reli­gio­nen ver­sam­melt die eine Mis­chung aus den bei­den vorherge­hen­den Motiv­en anbi­eten und daraus eine neue Welt bauen wollen. Gemein­sam ist ihnen, daß sie an die Vol­lend­barkeit des Men­schen und sein­er Geschichte glauben. U. a. behan­delt er: Aber­glauben, Homo­sex­u­al­ität, Geniekult, Rasseglauben, Anti­semitismus, Marx­is­mus, Antialko­holis­mus, Veg­e­taris­mus, Paz­i­fis­mus, Anthro­poso­phie und Psy­cho­analyse. Diese Liste macht deut­lich, daß es bei der verkappten Reli­gion vor allem darum geht, einen richti­gen Gedanken – wie den, daß Alko­hol unge­sund ist – zur Wel­ter­lö­sung auszubauen, indem das Absti­nen­zler­tum behauptet, durch Absti­nenz einen neuen Men­schen und damit den Welt­frieden her­vor­brin­gen zu kön­nen.

Brys Buch ist eine unglaublich reiche Darstel­lung an men­schlich­er Selb­stüber­schätzung. Er will, in gut kon­ser­v­a­tiv­er Manier, den Men­schen sagen, woran sie nicht zu glauben brauchen. Mit diesem Pro­gramm war keine große Anhänger­schaft zu erwarten, auch wenn sich zu Lebzeit­en zwei Aufla­gen des Buch­es verkauften. Der frühe Tod des Autors 1926 ver­hin­derte die ins Auge gefaßte Neubear­beitung und Ausweitung des The­mas. Um den Autor noch hell­sichtiger erscheinen zu lassen, als er es schon war, gab man den Nachkriegsaus­gaben einen Unter­ti­tel mit auf den Weg: »Kri­tik des kollek­tiv­en Wahns.« Dabei geht es Bry weniger um den kollek­tiv­en Wahn als dessen Ursache, die schließlich im einzel­nen Men­schen liegt. An ihn wen­det sich sein Buch und ist in Zeit­en der gegen Kri­tik immu­nisierten Demokratie aktuell wie bei seinem Erscheinen.

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Zitat:

Den Men­schen vorzeit­ig zu trösten, ihm eine Zuflucht zu bieten, während doch der  Kampf nicht aus­gekämpft ist, noch nicht ein­mal begonnen hat, ihn zum Deser­teur an der eige­nen Sache zu machen: Das ist der gefährlich­ste Charak­ter der verkappten Reli­gio­nen.

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Aus­gabe:

  • Mit dem Unter­ti­tel Kri­tik des kollek­tiv­en Wahns, hrsg. und mit einem Vor­wort verse­hen von Mar­tin Gre­gor-Dellin, Nördlin­gen: Greno 1988

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Lit­er­atur:

  • Ulrich Linse: Bar­füßige Propheten. Erlös­er der zwanziger Jahre, Berlin 1983
  • Kurs­buch der Weltan­schau­un­gen, Frank­furt a. M./Berlin/Wien 1980