Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben — Friedrich Nietzsche, 1874

Unter den vier Unzeit­gemäßen Betra­ch­tun­gen, die Niet­zsche zwis­chen 1873 und 1876 schrieb, nimmt die zweite eine Son­der­stel­lung ein. Nicht nur, weil sie als einzige keine konkrete Per­son zum Gegen­stand hat, son­dern weil ihr The­ma ins­ge­samt weit­er ges­pan­nt und vor allem tief­schür­fend­er angelegt ist als in den Stück­en über David Friedrich Strauss, Arthur Schopen­hauer und Richard Wag­n­er.

Die Prob­lematik, die Niet­zsche in sein­er Basler Zeit vor­rangig zu durch­drin­gen sucht, wird hier am kom­pak­testen aus­ge­führt. Es geht ihm wie schon in seinen Vorträ­gen Über die Zukun­ft unser­er Bil­dungsanstal­ten (1872) um das Ver­hält­nis von Bil­dung und Kul­tur, um die Erzeu­gung des »Genius« und um die Erziehung zur »freien Per­sön­lichkeit« durch Erhal­tung lebens­be­ja­hen­der »Instink­te«. Die »mod­erne Bil­dung« sei »gar keine wirk­liche Bil­dung, son­dern nur eine Art Wis­sen um die Bil­dung«. Namentlich die Deutschen sieht Niet­zsche zu sehr auf die His­to­rie fix­iert, was sie daran hin­dert, zu ein­er »höheren Cul­tur« zu find­en.

Als das eigentliche Kennze­ichen ein­er Kul­tur ver­ste­ht Niet­zsche die »Ein­heit des kün­st­lerischen Stiles in allen Leben­säusserun­gen eines Volkes«. Diese Ein­heit wieder­herzustellen, ist die große Vision sein­er frühen Schaf­fenspe­ri­ode.

Niet­zsche unter­schei­det drei Arten, Ver­gan­gen­heit zu betra­cht­en: die mon­u­men­tale, die anti­quar­ische und die kri­tis­che. Unter der mon­u­men­tal­en Art ver­ste­ht er die Auf­fas­sung, »dass die grossen Momente im Kampf der Einzel­nen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhen­zug der Men­schheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höch­ste eines solchen längst ver­gan­genen Momentes noch lebendig, hell und gross sei«. Doch diese Hal­tung ver­führe zur Täuschung durch Analo­gien, die zwar den einzel­nen dur­chaus stim­ulieren kön­nten, ihn aber viel öfter zu Fehlein­schätzun­gen der eige­nen Lage ver­leit­eten.

Werde die Geschichte anti­quar­isch betra­chtet, habe das neben der daraus  resul­tieren­den Hochschätzung alter Dinge zumeist auch eine läh­mende Nos­tal­gisierung der Ver­gan­gen­heit zur Folge. »Der Besitz von Urväter-Haus­rath verän­dert in ein­er solchen Seele seinen Begriff: denn sie wird vielmehr von ihm besessen.«

Deshalb sei eine dritte Art nötig, die kri­tis­che. Damit »die durch His­to­rie gestörte Gesund­heit eines Volkes wieder­hergestellt« werde, müsse immer wieder die Kraft aufge­bracht wer­den, »eine Ver­gan­gen­heit aufzulösen und zu zer­brechen.« Denn das »Unhis­torische« sei für die Lebens­fähigkeit ein­er Kul­tur eben­so nötig wie das »His­torische«.

Der Men­sch solle also wed­er gegen die Geschichte leben noch sich in ihr zurückziehen, son­dern sie als Auf­forderung ver­ste­hen, das Leben zu steigern, anstatt darüber bloß intellek­tuell zu reflek­tieren. Deshalb hüte man sich vor der läh­menden »Viel­wis­serei« der »his­torisch-aes­thetis­chen Bil­dungsphilis­ter«. Der »mod­er­nen Gebilde­theit« will Niet­zsche eine »wahre Bil­dung« ent­ge­genset­zen, deren Nutzen bere­its hier als Auf­forderung zur Selb­stüber­win­dung proklamiert wird: »Nein, das Ziel der Men­schheit kann nicht am Ende liegen, son­dern nur in ihren höch­sten Exem­plaren.«

Niet­zsche wen­det sich gegen die Genügsamkeit der Deutschen sein­er Zeit, bloß ein »Volk von Nachkom­men« zu sein, anstatt kul­turell etwas Neues zu begrün­den. Und genau darin liegt der Nachteil der His­to­rie für das Leben, daß sie sich selb­st nicht »his­torisieren« will: »Denn der Ursprung der his­torischen Bil­dung – und ihres inner­lich ganz und gar rad­i­calen Wider­spruch­es gegen den Geist ein­er “neuen Zeit”, eines “mod­er­nen Bewusst­seins”– dieser Ursprung muss selb­st wieder his­torisch erkan­nt wer­den, die His­to­rie muss das Prob­lem der His­to­rie selb­st auflösen, das Wis­sen muss seinen Stachel gegen sich selb­st kehren – dieses dreifache Muss ist der Imper­a­tiv des Geistes der “neuen Zeit”, falls in ihr wirk­lich etwas Neues, Mächtiges, Leben­ver­heis­sendes und Ursprünglich­es ist.«

Den Zus­tand, im Geschichtlichen befan­gen zu sein und sich von ihm die Gegen­wart dik­tieren zu lassen, nen­nt Niet­zsche die »his­torische Krankheit«. Nur durch Über­win­dung dieser »Krankheit« kön­nen die Deutschen zu ein­er eige­nen und orig­inären Kun­st und Bil­dung find­en, so wie sie einst bei dem »unhis­torischen« Volk der Griechen bestanden haben. Deshalb fordert er eine neue Auf­fas­sung des Begriffs »der Cul­tur als ein­er neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Ver­stel­lung und Con­ven­tion, der Cul­tur als ein­er Ein­hel­ligkeit zwis­chen Leben, Denken, Scheinen und Wollen«.

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Zitat:

Nur soweit die His­to­rie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.

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Aus­gabe:

  • Sämtliche Werke (Kri­tis­che Stu­di­en­aus­gabe), Bd. 1, München: dtv/de Gruyter 1980

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Lit­er­atur:

  • Mar­tin Hei­deg­ger: Zur Ausle­gung von Niet­zsches II. Unzeit­gemäss­er Betra­ch­tung: »Vom Nutzen und Nachteil der His­to­rie für das Leben«, in: Hei­deg­ger-Gesam­taus­gabe, Bd. 46, Frank­furt a. M. 2003
  • Jörg Salaquar­da: Stu­di­en zur Zweit­en Unzeit­gemäßen Betra­ch­tung, in: Niet­zsche-Stu­di­en 13 (1984)