1356 — Das Gesetz der Goldenen Bulle wird verkündet

Ob der Föder­al­is­mus Deutsch­lands Segen oder sein Fluch sei, darüber wur­den schon immer recht unter­schiedliche Ansicht­en geäußert. Jeden­falls gehört es zu den Tat­sachen der deutschen Geschichte, daß sich nie ein vol­lkom­men durch­set­zungs­fähiges, örtlich definiertes Entschei­dungszen­trum etablieren kon­nte. Im Mit­te­lal­ter pflegten die Könige des Reich­es mit ihrem Hof über das Land zu ziehen. Die Fürsten hat­ten während der königlichen Abwe­sen­heit ander­norts viel Spiel­raum bei der Auf­gabe, ihre Län­der zum Blühen zu brin­gen.

Zum Fehlen des sta­tionären Königshofs gesellte sich das Fehlen der unmit­tel­baren Erb­folge. Der König von Deutsch­land wurde gewählt, zuerst von allen Freien, dann von weni­gen, schließlich durch ein Gremi­um von sieben Kur­fürsten. In Frankre­ich rief man tra­di­tionell: „Der König ist tot! Es lebe der König!“ — denn irgend jemand hat­te den Thron immer geerbt. In Deutsch­land fol­gte dem Königstod ein Inter­reg­num, die königslose Zeit, die so lange dauerte, bis eine neue Wahl stattge­fun­den hat­te.

Für die Kur­fürsten entwick­el­ten sich das Inter­reg­num und der Wahlvor­gang zur Ern­tezeit. Wer unter­stützt wer­den wollte, mußte ihnen Konzes­sio­nen machen, teil­weise sehr teure Konzes­sio­nen, die das Rechts­ge­füge inner­halb des Reichs stetig auf ihre Ebene ver­lagerten. Der spätere Staufer­kaiser Friedrich II. hat­te 1213 in ein­er Gold­e­nen Bulle von Eger auf umfan­gre­iche Rechte gegenüber den Fürsten verzichtet, was zu dem jahrzehn­te­lan­gen Chaos beitrug, das nach seinem Tod 1250 aus­brechen sollte. Das Inter­reg­num dauerte dies­mal mehr als zwanzig Jahre. Sie blieben den Zeitgenossen als furcht­bare Peri­ode in Erin­nerung, wenn dies heute auch wie fast alles andere in der Forschung „dif­feren­ziert“ beurteilt wird.

Die Gold­ene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356 war also nicht die erste ihrer Art. Zu ihren Beson­der­heit­en gehörte aber die poli­tis­che Kon­stel­la­tion, unter der sie zus­tande kam. Karl IV. kehrte frisch und erfol­gre­ich von einem Ital­ienun­ternehmen zurück, bei dem er sich 1355 zum Kaiser krö­nen lassen kon­nte. Er kam also nicht als Bittsteller zu den Reichs­fürsten, son­dern lud aus ein­er Posi­tion der Stärke zum Hof­tag nach Nürn­berg ein. Sein Ziel bestand in ein­er Reform des Reichs und des Wahl­prozess­es.

Let­zteres gelang. 1356 erhielt der Wahlvor­gang zur deutschen Königskrö­nung in Nürn­berg seine endgültige Form, die der junge Goethe noch vier­hun­dert Jahre später in Frank­furt zu sehen bekam, das seit dem 16. Jahrhun­dert als Krö­nung­sort fungierte. Die sieben Kur­wür­den wur­den bestätigt, ihre Rang­folge, beson­dere Auf­gaben und die Rei­hen­folge der Stim­ma­b­gabe erneut fest­gelegt. Dem Ver­ständ­nis der Zeit entsprechend, wurde dabei kein Recht „geschaf­fen“, son­dern ewiges Recht gefun­den und for­muliert. Die früher häu­fi­gen Wahlen von Gegenköni­gen wieder­holten sich nach dieser Gold­e­nen Bulle nicht mehr.

Trotz­dem hat­te auch die Gold­ene Bulle von Nürn­berg für den Kaiser ihren Preis. Kur­fürsten genossen aus­drück­lich Immu­nität, sie hat­ten kün­ftig umfassende Münz- und Zoll­rechte, ihre Gebi­ete waren unteil­bar und wur­den in direk­ter Lin­ie vererbt oder vom Papst als geistliche Lehen vergeben. Daß ein Lehen bei hart­näck­i­gen Rechts­brüchen vom König einge­zo­gen wer­den kon­nte, wie es im Stre­it zwis­chen Friedrich Bar­barossa und Hein­rich dem Löwen dem Let­zt­ge­nan­nten ergan­gen war, war unter den Bedin­gun­gen der Gold­e­nen Bulle nicht mehr möglich. Die Rechte des Königs waren begren­zt, bei Rechtsstre­it­igkeit­en hat­te er sich selb­st vor dem Kur­fürsten und Erztruch­seß des Reich­es, dem Pfalz­grafen bei Rhein, zu ver­ant­worten.

Ver­fas­sungs­geschichtlich kon­nte das Reich unter diesen Bedin­gun­gen ger­adezu als Keimzelle mod­ern­er Gewal­tenteilung und Hort der bald sprich­wörtlichen „Teutschen Frei­heit­en“ gel­ten, bis die Staat­en des West­ens sie Jahrhun­derte später neu erfind­en soll­ten. Auch deshalb haben die sieben Aus­fer­ti­gun­gen der Gold­e­nen Bulle seit eini­gen Jahren den Sta­tus des Weltkul­turerbes.

Die Macht von König und Kaiser stützte sich kün­ftig auf dessen eigenes Herrschafts­ge­bi­et. Karls IV. böh­mis­che Haus­macht wurde schließlich vom Hause Hab­s­burg dauer­haft ererbt, das die Kro­ne des Kaisers bis zum staatlichen Ende des Alten Reichs im Jahr 1806 tra­gen sollte. Die ter­ri­to­ri­ale Zer­split­terung Deutsch­lands mün­dete danach schließlich in seine dauer­hafte Teilung, dies allerd­ings zweifel­los nicht aus rein innerdeutschen Grün­den.

Lit­er­atur:

  • Bernd-Ulrich Hergemöller: Der Nürn­berg­er Reich­stag von 1355/56 und die „Gold­ene Bulle“ Karls IV., Mün­ster 1978
  • Ulrike Hohensee (Hrsg.): Die Gold­ene Bulle. Poli­tik — Wahrnehmung — Rezep­tion, Berlin 2009