Ob der Föderalismus Deutschlands Segen oder sein Fluch sei, darüber wurden schon immer recht unterschiedliche Ansichten geäußert. Jedenfalls gehört es zu den Tatsachen der deutschen Geschichte, daß sich nie ein vollkommen durchsetzungsfähiges, örtlich definiertes Entscheidungszentrum etablieren konnte. Im Mittelalter pflegten die Könige des Reiches mit ihrem Hof über das Land zu ziehen. Die Fürsten hatten während der königlichen Abwesenheit andernorts viel Spielraum bei der Aufgabe, ihre Länder zum Blühen zu bringen.
Zum Fehlen des stationären Königshofs gesellte sich das Fehlen der unmittelbaren Erbfolge. Der König von Deutschland wurde gewählt, zuerst von allen Freien, dann von wenigen, schließlich durch ein Gremium von sieben Kurfürsten. In Frankreich rief man traditionell: „Der König ist tot! Es lebe der König!“ — denn irgend jemand hatte den Thron immer geerbt. In Deutschland folgte dem Königstod ein Interregnum, die königslose Zeit, die so lange dauerte, bis eine neue Wahl stattgefunden hatte.
Für die Kurfürsten entwickelten sich das Interregnum und der Wahlvorgang zur Erntezeit. Wer unterstützt werden wollte, mußte ihnen Konzessionen machen, teilweise sehr teure Konzessionen, die das Rechtsgefüge innerhalb des Reichs stetig auf ihre Ebene verlagerten. Der spätere Stauferkaiser Friedrich II. hatte 1213 in einer Goldenen Bulle von Eger auf umfangreiche Rechte gegenüber den Fürsten verzichtet, was zu dem jahrzehntelangen Chaos beitrug, das nach seinem Tod 1250 ausbrechen sollte. Das Interregnum dauerte diesmal mehr als zwanzig Jahre. Sie blieben den Zeitgenossen als furchtbare Periode in Erinnerung, wenn dies heute auch wie fast alles andere in der Forschung „differenziert“ beurteilt wird.
Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356 war also nicht die erste ihrer Art. Zu ihren Besonderheiten gehörte aber die politische Konstellation, unter der sie zustande kam. Karl IV. kehrte frisch und erfolgreich von einem Italienunternehmen zurück, bei dem er sich 1355 zum Kaiser krönen lassen konnte. Er kam also nicht als Bittsteller zu den Reichsfürsten, sondern lud aus einer Position der Stärke zum Hoftag nach Nürnberg ein. Sein Ziel bestand in einer Reform des Reichs und des Wahlprozesses.
Letzteres gelang. 1356 erhielt der Wahlvorgang zur deutschen Königskrönung in Nürnberg seine endgültige Form, die der junge Goethe noch vierhundert Jahre später in Frankfurt zu sehen bekam, das seit dem 16. Jahrhundert als Krönungsort fungierte. Die sieben Kurwürden wurden bestätigt, ihre Rangfolge, besondere Aufgaben und die Reihenfolge der Stimmabgabe erneut festgelegt. Dem Verständnis der Zeit entsprechend, wurde dabei kein Recht „geschaffen“, sondern ewiges Recht gefunden und formuliert. Die früher häufigen Wahlen von Gegenkönigen wiederholten sich nach dieser Goldenen Bulle nicht mehr.
Trotzdem hatte auch die Goldene Bulle von Nürnberg für den Kaiser ihren Preis. Kurfürsten genossen ausdrücklich Immunität, sie hatten künftig umfassende Münz- und Zollrechte, ihre Gebiete waren unteilbar und wurden in direkter Linie vererbt oder vom Papst als geistliche Lehen vergeben. Daß ein Lehen bei hartnäckigen Rechtsbrüchen vom König eingezogen werden konnte, wie es im Streit zwischen Friedrich Barbarossa und Heinrich dem Löwen dem Letztgenannten ergangen war, war unter den Bedingungen der Goldenen Bulle nicht mehr möglich. Die Rechte des Königs waren begrenzt, bei Rechtsstreitigkeiten hatte er sich selbst vor dem Kurfürsten und Erztruchseß des Reiches, dem Pfalzgrafen bei Rhein, zu verantworten.
Verfassungsgeschichtlich konnte das Reich unter diesen Bedingungen geradezu als Keimzelle moderner Gewaltenteilung und Hort der bald sprichwörtlichen „Teutschen Freiheiten“ gelten, bis die Staaten des Westens sie Jahrhunderte später neu erfinden sollten. Auch deshalb haben die sieben Ausfertigungen der Goldenen Bulle seit einigen Jahren den Status des Weltkulturerbes.
Die Macht von König und Kaiser stützte sich künftig auf dessen eigenes Herrschaftsgebiet. Karls IV. böhmische Hausmacht wurde schließlich vom Hause Habsburg dauerhaft ererbt, das die Krone des Kaisers bis zum staatlichen Ende des Alten Reichs im Jahr 1806 tragen sollte. Die territoriale Zersplitterung Deutschlands mündete danach schließlich in seine dauerhafte Teilung, dies allerdings zweifellos nicht aus rein innerdeutschen Gründen.
Literatur:
- Bernd-Ulrich Hergemöller: Der Nürnberger Reichstag von 1355/56 und die „Goldene Bulle“ Karls IV., Münster 1978
- Ulrike Hohensee (Hrsg.): Die Goldene Bulle. Politik — Wahrnehmung — Rezeption, Berlin 2009