Am 23. April 1516 wurde in Ingolstadt Geschichte geschrieben. Dort, in der oberbayerischen Provinz, erließen die bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. ein Gesetz, das nach der Vereinigung der bayerischen Teilherzogtümer Ober- und Niederbayern als „Bayerische Landesordnung“ die Harmonisierung der beiden Gesetzgebungen bewerkstelligen sollte. Berühmt wurde die Landesordnung, weil sie eines der heute weltweit bekanntesten Lebensmittelgesetze beinhaltete: das Bayerische Reinheitsgebot.
Regeln für die Bierproduktion gab es auch vor der Zäsur von 1516; gewerbliches Brauen hatte in Deutschland, vor allem aber in Bayern immerhin eine Tradition seit dem späten 13. bzw. frühen 14. Jahrhundert, und natürlich versuchte schon damals die jeweils zuständige Autorität, Herstellung und Verbreitung des alkoholischen Produktes in geregelten Bahnen laufen zu lassen. Erste Eckpfeiler auf dem Weg zum Reinheitsgebot waren lokal gültige Verordnungen, etwa in den fränkischen Städten Nürnberg (1293, 1303, 1305) und Bamberg (1313), aber auch in München (1487) und im Herzogtum Bayern-Landshut (1493). Keine der aufgestellten Regeln waren indes so explizit wie der später als Reinheitsgebot bekanntgewordene Text aus dem Jahre 1516.
Er regelte unter anderem festzusetzende Preise, die selbstredend heute keine Rolle mehr spielen. Sein entscheidender, weil bis heute folgenreichster Passus lautete daher vielmehr: „Wir wollen auch sonderlichhen dass füran allenthalben in unsern stetten märckthen un auf dem lannde zu kainem pier merer stückh dan allain gersten, hopfen un wasser genommen un gepraucht solle werdn.“ (Ganz besonders wollen wir, daß forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen.)
Das (erst später so genannte) Reinheitsgebot umfaßte also die Anweisung, welche Zutaten alleine enthalten sein dürfen. Die Beschränkung auf Gerste (später Gerstenmalz) hatte dabei keine geschmacklichen Gründe, sondern sollte den Nahrungsmittelengpässen entgegenwirken, da man Weizen und Roggen für die Brotherstellung benötigte. Brauen mit Weizen war zwar möglich, verursachte für den Brauer aber erhebliche Sonderkosten in Form von Steuern — Profiteur war der bayerische Staat.
Der Text wurde nach 1516 mannigfach modifiziert, weitere Getreidesorten für genehm erachtet. Hefe, die in der Entstehungsphase eines Bieres per se beteiligt war und ist, aber erst im 19. Jahrhundert in ihrer Bedeutung für den Gärungsprozeß erfaßt werden konnte, wurde als vierter Rohstoff in das Reinheitsgebot aufgenommen.
Entgegen einer durchaus weitverbreiteten Annahme war 1516 kein Scheidejahr zwischen Bayern und den anderen deutschen Ländern. Ein eigenes, genuin deutsches Reinheitsgebot gibt es nicht. Erst nach fast vierhundert Jahren übernahm das Deutsche Reich mit Wirkung vom 3. Juni 1906 die Grundlagen des Reinheitsgebots der Bayerischen Landesordnung (auch, um im protektionistischen Sinne englische Marktkonkurrenz auszuschalten). Nach Ende des Ersten Weltkriegs, in der Entstehungsphase der Weimarer Republik, handelte Bayern aus, daß für sein Territorium — anders als es in anderen Teilen Deutschlands partiell vorkam — die Beigabe von Zucker weiterhin strengstens untersagt blieb.
Ob 1516 oder 2016: In Bayern (und ab 1906 in Deutschland) dürfen zum Brauen von Bier ausschließlich bestimmte Zutaten verwendet werden. Laut einer Forsa-Umfrage vom Frühjahr 2014 wollen 85 Prozent der Deutschen, daß das Reinheitsgebot aus dem Jahre 1516 weiter besteht — aller Liebe zu sogenanntem Craft Beer und anderen Geschmacksnovitäten zum Trotz.
Literatur:
- Monika Ruth Franz: Die Landesordnung von 1516/1520. Landesherrliche Gesetzgebung im Herzogtum Bayern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (= Bayerische Rechtsquellen, Bd. 5) München 2003
- Karin Hackel-Stehr: Das Brauwesen in Bayern vom 14. bis 16. Jahrhundert, insbesondere die Entstehung und Entwicklung des Reinheitsgebotes (1516), Diss. Berlin 1987
- Rosmarie Rittmann: Warum sollte das Reinheitsgebot noch aktuell sein?, in: Die Welt vom 27.10. 2015