Als der kriegsfreiwillige Philosoph Franz Rosenzweig im Sommer 1917 ein zweiseitiges Fragment aus Hegels Nachlaß unter der Vermutung „Ältestes Systemprogramm“ veröffentlichte, setzte er forschungsgeschichtlich neue Dispositionen sowohl zum Auftakt des Deutschen Idealismus wie zu seinem Ende und damit der Blütezeit der deutschen Philosophie überhaupt. Dieses „Programm“ ist im Frühjahr 1796 entstanden als Abschluß eines längeren Diskurses zwischen den Tübinger Stiftlern Schelling, Hegel und Hölderlin. Die Reinschrift stammt von Hegel. Obwohl der Begriff „Systemprogramm“, der von Rosenzweig als Titel gegeben wurde, wohl zu euphemistisch ist, legt dieses Fragment doch Problemstellungen des Deutschen Idealismus zwischen 1796 und 1841 aus.
Zum ersten: der Entwurf einer absoluten Subjektphilosophie, deren erste Idee „natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen“ sein wird; Hölderlins Poesie und die Identitätsphilosophien (seit 1800) sind dem verpflichtet, ebenso wie dann die große Logik Hegels.
Zum zweiten: die Idee einer spekulativen Naturphilosophie, nämlich „unserer langsamen an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben“. Gerade das haben dann in Jena (1798–1807) Schelling sowie Hegel im Hörsaal und die romantischen Naturforscher (namentlich Johann Wilhelm Ritter) experimentell praktiziert.
Zum dritten: die Skizze einer neuen — antipolitischen — Praktischen Philosophie. „Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran — will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! — Denn jeder Staat muß freie Menschen als Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.“ Das war leitmotivisch prägend bei Hölderlin (schon 1794 „Über das Gesetz der Freiheit“) und vor allem dann bei Schelling, dessen Idee von Gesellschaft als „Höherer Natur“ sich durch seine gesamtes Werk zieht.
Zum vierten: eine Neue Ästhetik, denn: „Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstaben-Philosophen. Die Poesie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war — Lehrerin der Menschheit.“ Daß also, wie es Schelling 1800 im Jenaer Hörsaal sagen wird, die Kunst das „wahre Organon der Philosophie“ ist. Oder, bei Hölderlin (aus der Zeit des „Systemprogramms“): „Und es neigen die Weisen / Oft am Ende zu Schönem sich.“
Schließlich als sozusagen Schlußstein im Bau des neuen Denkens: „Wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.“ Diese Programmatik wird bis zuletzt gerade von Schelling ausgestaltet, mit der Pointe: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes.“ — Damit führt der späte Schelling die Philosophie insgesamt aus System- und Deduktionszusammenhängen heraus zu einer narrativ-symbolischen „Arbeit am Mythos“, der sich in Deutschland dann vor allem Friedrich Nietzsche und Ernst Cassirer verpflichtet sehen.
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Literatur:
- Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, ein handschriftlicher Fund, mitgeteilt v. Franz Rosenzweig, Heidelberg 1917
- Rüdiger Bubner (Hrsg.): Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, Bonn 1973
- Frank-Peter Hansen: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin/New York 1989