Der 1. Mai ist als sogenannter „Tag der (nationalen) Arbeit“ seit 1933 fest im Freizeitkalender der Deutschen verankert; in Österreich schon 14 Jahre länger. Seit 1987 ist der 1. Mai in Deutschland vor allem auch der Tag, an dem Autonome und Antifa-Gruppen durch Randale und Gewaltexzesse auf sich aufmerksam machen. Gut einhundert Jahre zuvor, im Jahr 1886, hatte der 1. Mai als Kampftag der politischen Linken seine Premiere erlebt — bereits damals gab es eine Nähe zur politischen Gewalttat. Der Ort dieser Premiere war nicht Berlin oder Hamburg, sondern Chicago, doch einer der Hauptakteure war ein gebürtiger Deutscher: August Spies aus dem nordhessischen Friedewald.
Spies war 1872 mit 17 Jahren in die USA eingewandert. Es war eine Zeit, in der viele Europäer sich der Hoffnungslosigkeit, dem Hunger und dem Elend in ihren Herkunftsländern durch Auswanderung in die Neue Welt zu entziehen suchten. In den USA angekommen, bemerkte Spies bald, daß der Traum vom besseren Leben sich für viele Einwanderer in den großen Industriemetropolen in einen Albtraum zu verwandeln drohte.
Spies, inzwischen selbständig tätig als Möbeltischler, trat 1877 der gerade gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei von Nordamerika (Socialist Labor Party of North America) bei. Nach der brutalen Niederschlagung eines Eisenbahnerstreiks im selben Jahr trat Spies in den Lehr- und Wehrverein ein, eine bewaffnete Selbstschutzorganisation der Arbeiterschaft. Seit 1880 war Spies auch publizistisch tätig als Herausgeber und Geschäftsführer der Chicagoer Arbeiter-Zeitung (seit 1884 außerdem als deren Chefredakteur). Wahlfälschungen, korrupte Richter und die Brutalität der staatlichen Ordnungsorgane bei Demonstrationen und Streiks sorgten dafür, daß August Spies sich radikalisierte und sozialrevolutionär-anarchistische Tendenzen entwickelte.
Doch auch die Gegenseite radikalisierte sich. Als die Arbeiterbewegung zum 1. Mai 1886 einen mehrtägigen Generalstreik ausrief, um den Achtstundentag durchzusetzen, war in den von den großen Unternehmen gelenkten Zeitungen zu lesen: „Gefährliche Schurken befinden sich auf freiem Fuß. Statuiert an ihnen ein Exempel!“ Oder: „Es ist sehr hübsch, wahres Elend zu lindern, aber die beste Mahlzeit für einen lumpigen Tramp ist Blei.“
Anfang Mai 1886 zeigte die Polizei in den Straßen Chicagos verstärkt Präsenz, Scharfschützen postierten sich auf den Dächern, das Militär stand in Alarmbereitschaft. Den 1. Mai hatte man für den Aufruf zum Generalstreik nicht zufällig gewählt, denn dieser Tag war der traditionelle „moving day“ — der Stichtag für den Abschluß oder die Aufhebung von Arbeitsverträgen, oft verbunden mit einem Arbeitsplatz- oder Wohnortwechsel.
Der 1. Mai 1886 — der Tag, an dem August Spies vor den Arbeitern redete — blieb noch ruhig. Nachdem zwei Tage später vier Arbeiter von der Polizei erschossen worden waren, rief Spies für den Abend des 4. Mai zu einer Protestkundgebung auf dem Haymarket auf, einem zentral gelegenen Platz mit mehreren Fabrikgebäuden und Warenhäusern. Es kamen rund 1000 Arbeiter zusammen, erneut streng überwacht von Sicherheitskräften.
Als nach den Reden die Versammlung sich langsam auflöste, explodierte auf dem Veranstaltungsplatz eine Rohrbombe — sieben Polizisten und eine unbekannte Anzahl von Kundgebungsteilnehmern starben (letztere nicht nur durch die Bombenexplosion, sondern auch infolge des sofort nach der Detonation einsetzenden Kugelhagels aus Polizeiwaffen). Ob die Explosion durch politische Extremisten oder, wie manche Beobachter sofort vermuteten, durch Agenten der Gegenseite ausgelöst worden war — es war das erste tödliche Bombenattentat auf amerikanischem Boden. Der blutige Anschlag wurde umgehend instrumentalisiert, um die Angst vor der Gefahr durch die organisierten Arbeiter zu nähren. In der Bevölkerung entstanden Panik und Hysterie, Arbeiterführer wurden inhaftiert, Zeugen bestochen, Wohnungen durchsucht und Waffenarsenale der Arbeiterbewegung ausgehoben.
Unter den acht wegen Mordes Verhafteten befanden sich August Spies und fünf weitere Arbeiter deutscher Abstammung. Am 21. Juni begann der Prozeß. Weil die Mordanklage sich trotz gekaufter Falschaussagen nicht aufrechterhalten ließ, wandelte die Staatsanwaltschaft die Anklage in „Verschwörung zur Ermordung von Polizisten“ um. Das Gericht verurteilte sieben der Angeklagten zum Tod am Galgen. August Spies wurde gemeinsam mit Albert Parsons, Georg Engel und Adolph Fischer am 11. November 1887 hingerichtet. 1890 wurde der 1. Mai als internationaler Kampftag der Arbeiterbewegung ausgerufen — und damit auch als Gedenktag für August Spies. Sechs Jahre nach der Vollstreckung erfolgte die Aufhebung der Todesurteile.
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Literatur:
- Horst Karasek (Hrsg.): Haymarket! 1886. Die deutschen Anarchisten von Chicago — Reden und Lebensläufe, Berlin 1975
- Heinrich Nuhn: August Spies. Ein hessischer Sozialrevolutionär in Amerika, Kassel 1992