1901 — Der Wandervogel wird gegründet

Am 4. Novem­ber 1901 grün­dete eine Gruppe von Hon­o­ra­tioren um die Schrift­steller Hein­rich Sohn­rey und Wolf­gang Kirch­bach den Wan­der­vo­gel — Auss­chuß für Schüler­fahrten e.V.. Schau­platz der Vere­ins­grün­dung war das Keller­lokal des Rathaus­es der damals noch eigen­ständi­gen preußis­chen Landge­meinde Steglitz; über den Genius loci dieses Ortes schrieb der Chro­nist der deutschen Jugend­be­we­gung Hans Blüher, der ein Jahr nach der Grün­dung als 33. Mit­glied in den Vere­in aufgenom­men wor­den war, 1913 rück­blick­end: “Wenn man näm­lich des Abends von Osten nach West­en ging und aus der Bäke­niederung und den anderen Vil­len­vororten auf Steglitz zukam, da sah man im Golde das aufgereck­te Dorf prangen, und es gab auch in der ganzen weit­en Umge­bung von Berlin keine Sil­hou­ette ein­er Ortschaft, die in so unvergeßlichen For­men das­tand, wie die von Steglitz.”

Voraus­ge­gan­gen waren der Vere­ins­grün­dung fünf Jahre des „wilden Wan­derns“ unter Schülern des Gym­na­si­ums Steglitz, maßge­blich angestoßen durch den Schüler Karl Fis­ch­er unter Anleitung durch den Hil­f­slehrer Her­mann Hoff­mann und dessen Berichte von jugendlichen Wan­der­fahrten. Bin­nen kürzester Zeit stell­ten die Gym­nasi­as­ten bere­its mehrwöchige Wan­derun­gen durch die Natur, möglichst weitab von größeren Städten (etwa durch Böh­mer­wald und Harz), auf die Beine und organ­isierten sich streng hier­ar­chisch in ein­er Weise, die sie den klas­sis­chen Stu­den­ten­verbindun­gen entlehn­ten: Groß­fahrten wur­den von einem dreiköp­fi­gen Komi­tee geplant und geleit­et; erfahrene Teil­nehmer wur­den als „Wan­der­burschen“ den neu hinzugekomme­nen „Wan­der­füch­sen“ zur Seite gestellt. Ehe Hoff­mann Steglitz zugun­sten ein­er Kar­riere als Diplo­mat in Rich­tung Kon­stan­tinopel ver­ließ, ernan­nte er Fis­ch­er zu seinem Nach­fol­ger und hin­ter­ließ ihm das Ver­mächt­nis, „diese Art des Jugend­wan­derns über Steglitz hin­aus unter der deutschen Jugend zu ver­bre­it­en“.

Mit Grün­dung des Wan­der­vo­gels als einge­tra­gen­em Vere­in wuchs Fis­ch­er die alleinige Führungsrolle zu. Sein Haup­tan­liegen war in den ersten Jahren die Ver­fes­ti­gung des Grup­pen­zusam­men­halts durch die Schaf­fung eines unverkennbaren Stils und Habi­tus: Bald nutzten die jun­gen Wan­der­er (oder „Schol­aren“, wie Fis­ch­er die vor­ma­li­gen „Wan­der­burschen“ unter Beru­fung auf die leg­endären fahren­den Schüler des Mit­te­lal­ters nan­nte) eigene Gruß­formeln und Erken­nungsze­ichen, auch wurde ein ein­heitlich­er Kanon aus Volks- und Sol­daten­liedern geschaf­fen. Hinzu kam eine ein­heitliche Bek­lei­dung, die „Kluft“, um Ver­wech­slun­gen mit Land­stre­ich­ern vorzubeu­gen. Diese forcierte Iden­titäts­bil­dung führte gle­ichzeit­ig zu ein­er (nicht unge­woll­ten) milden Ent­frem­dung vom wil­helminis­chen Bürg­er­tum der Eltern­gener­a­tion.

Hans Blüher faßte die Attitüde bündig zusam­men: “Der Wan­der­vo­gel von echtem roman­tis­chem Blute ist eine Mis­chung aus einem deutschen Schüler, einem Kun­den [d.i. ein Ange­höriger des fahren­den Volks; N.W.] und einem fahren­den Scholas­ten aus dem Mit­te­lal­ter.” Blüher war es auch, der durch einen Eklat die bere­its 1904 erfol­gte Auf­s­pal­tung des rasch expandierten ursprünglichen Vere­ins in Wan­der­vo­gel — einge­tra­gen­er Vere­in zu Steglitz und Alt-Wan­der­vo­gel beförderte, von dem sich 1907 im Stre­it um ein Alko­hol- und Nikot­in­ver­bot auf Fahrten, das die spätere „Meißn­er­formel“ vor­weg­nahm, der Wan­der­vo­gel, Deutsch­er Bund für Jugend­wan­derun­gen abspal­tete. Erst kurz vor dem Ersten Frei­deutschen Jugend­tag auf dem Hohen Meißn­er am 11. und 12. Okto­ber 1913 kam es zu ein­er teil­weisen Wieder­an­näherung der zer­split­terten Wan­der­vo­gel­be­we­gung.

Die Grund­la­gen des Wan­der­vo­gels — Naturver­bun­den­heit, Fahrten­be­trieb, Roman­tisierung eines Jugen­dideals — kamen nach dem Ersten Weltkrieg in der vielfältig aufgestell­ten bündis­chen Jugend, die außer­dem von den in Großbri­tan­nien begrün­de­ten Pfadfind­ern eine mil­itärisch inspiri­erte Organ­i­sa­tion über­nahm, mit ver­stärk­ter gesellschaftlich­er und poli­tis­ch­er Posi­tion­ierung zusam­men.

Daß der Ur-Wan­der­vo­gel bin­nen kurz­er Zeit einen der­ar­ti­gen Zulauf erfahren hat­te und eine immense Prägekraft hat­te ent­fal­ten kön­nen, führte dazu, daß in der Zwis­chenkriegszeit ins­beson­dere weltan­schauliche Organ­i­sa­tio­nen eine eigene bündis­che Gruppe für unab­d­ing­bar erachteten — bis hin etwa zu den bis heute beste­hen­den Fahren­den Gesellen, der sein­erzeit­i­gen Wan­der­gruppe der Angestell­tengew­erkschaft Deutschna­tionaler Hand­lungs­ge­hil­fen-Ver­band. Der betont dis­tanzierte Habi­tus der parteifreien bündis­chen Grup­pen (Wan­der­vo­gel, Deutsche Freis­char, dj.1.11 u.v.a.m.) führte in der Spät­phase der Weimar­er Repub­lik zu eskalieren­den Kon­flik­ten — bis hin zu Über­fällen mit Schw­erver­let­zten — ins­beson­dere mit der Hitler­ju­gend. Ab 1933 wurde die bündis­che Jugend staatlich­er­seits unter­drückt und in die HJ über­führt.

In der heuti­gen Bun­desre­pub­lik führt eine Vielzahl ungle­ich kleiner­er Jugend­bünde die Tra­di­tion des Wan­der­vo­gels fort; nen­nenswert ist hier ins­beson­dere der bere­its in der Weimar­er Repub­lik begrün­dete Nerother Wan­der­vo­gel. Während diese Grup­pierun­gen nur mehr Teil ein­er weit­ge­fächerten, bündisch inspiri­erten „Szene“ sind, die von den sozial­is­tis­chen Falken bis hin zu den Jugend­bün­den der Ver­triebe­nenor­gan­i­sa­tio­nen reicht, ist das kul­turelle Ver­mächt­nis des Wan­der­vo­gels ungle­ich beständi­ger: Ins­beson­dere das 1909 ent­standene bündis­che Lieder­buch Zupfgeigen­hansl ist noch heute von Bedeu­tung. Auch das mit­tler­weile wel­tumspan­nende Jugend­her­bergswerk sowie die soge­nan­nte Reform­päd­a­gogik gehen maßge­blich auf Vorar­beit und Ein­flüsse des Wan­der­vo­gels zurück.

Abschließend kann die prä­gende Wirkung des Wan­der­vo­gels als erste gen­uin deutsche Jugend­be­we­gung, die von Beginn des 20. Jahrhun­derts an jede junge Gen­er­a­tion aufs Neue mit einem ins­beson­dere von Niet­zsche abgeleit­eten Ethos des „Lebens“ als Ein­heit von Leib, Seele und Umwelt bee­in­flußte, kaum bess­er umris­sen wer­den als mit den Worten des Schrift­stellers und altge­di­en­ten „Nerothers“ Wern­er Hel­wig: „Die Jugend­be­we­gung förderte Askese, liebte schlichte Lebens­for­men, pflegte den Geist der Selb­stver­ant­wor­tung, half die Welt erschließen mit den ein­fach­sten Mit­teln. Mied die Hotels, ver­achtete in ein­er guten Peri­ode ihrer späten Phase sog­ar die selb­st­geschaf­fe­nen Jugend­her­ber­gen, schätzte Abhär­tun­gen, schwierige Dichter, Denker, Welt­bil­drev­o­lu­tionäre und — auf dem Umweg über das wieder­ent­deck­te Volk­slied — strenge musikalis­che For­men.“

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Lit­er­atur:

  • Hans Blüher: Wan­der­vo­gel. Geschichte ein­er Jugend­be­we­gung, Frank­furt a. M. 1976
  • Wern­er Hel­wig: Die Blaue Blume des Wan­der­vo­gels. Vom Auf­stieg, Glanz und Sinn ein­er Jugend­be­we­gung, Bau­nach 1998
  • Ulrich Her­rmann (Hrsg.): „Mit uns zieht die neue Zeit …“ Der Wan­der­vo­gel in der deutschen Jugend­be­we­gung, Wein­heim 2006