Im Herbst 1888 begann Friedrich Nietzsche an seinem Hauptwerk zu arbeiten. Es sollte ein Beitrag sein zu der Frage, die von der Philosophie seit Immanuel Kant fortan als ihr Hauptproblem bestimmt wurde: Was ist der Mensch? Nietzsche wollte dieses zentrale Thema schon mit seiner literarischen Darstellung aus der Kontinuität schulphilosophischer Begriffs- und Ableitungsformen herauslösen. Seine kritische Anthropologie sollte in allem ein Novum sein. — Und so präsentiert Nietzsche mit Ecce homo (nur auf den ersten Blick autobiographisch) eine große mythische Erzählung vom Werden eines Neuen Menschen; in Erinnerung an den Ruf des Erstaunens (Joh 19,5), als schon einmal ein Mensch mit allen Zeichen von Außerordentlichkeit unter seinesgleichen trat.
Das anthropologische Problem Nietzsches wird deutlich in seiner Disposition, mit der er den Zarathustra enden läßt: “Der Mensch aber ist Etwas, das überwunden werden muß.” Diese Überwindung soll aber nicht als Regression herbeigeführt werden, etwa zurück zu seiner natürlich-empirischen („tierischen“) Herkunft, oder bloß als Verbesserung seiner sozialen Gegenwart, sondern ihm soll vor allem seine spirituelle Herkunft wieder verinnerlicht werden. Warum? Um etwas Paradoxes an uns selber zu begreifen: nämlich, daß man (wieder) werden-kann-der-man-ist!
Nietzsche macht — schon mit der Pathosformel „Ecce homo“ als Titel! — mit dem Hinweis auf das mythische Geschehen von Golgatha auf die Genealogie des Neuen — nachösterlichen! — Menschen aufmerksam: „Gott starb: nun wollen wir, — daß der Übermensch lebe.“ Mit diesem neuen Begriff vom Menschen wird für ihn eine neue Perspektive sozusagen „nach vorn“ entworfen. Damit will Nietzsche begreiflich machen, daß der Mensch sich aus dem Gehäuse jedes Gemeinschaftsmodus befreien kann.
Der philosophisch entscheidende Kern der (urchristlichen) Passionsgeschichte, mit der aber dann auch alles bloß Glaubensförmig-Christliche überwunden werden kann, ist: die Menschwerdung als Akt der Kènosis. Nietzsche orientiert mit der Kènosis auf das Verfahren der Selbstverwandlung Gottes, seiner Selbstentäußerung, seiner Selbstverausgabung, eben, wie er den Logos Mensch werden läßt. Diese Metamorphose in den „Neuen Menschen“, glaubensförmig in die Person Christi, wird konstitutiv gewissermaßen in Freund-Feind-Bildern erzählt. In Bildern der Erniedrigung und Demütigung des einen durch den anderen. Dadurch aber kann uns auch klar werden, daß wir selber (als Imago Dei) als „Neue Menschen“ ein paradoxes Selbstverhältnis ausweisen, uns selber zugleich Freund-Feind sind, fähig zugleich zum Guten wie zum Bösen.
“[E]s ist mit dem Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, ins Dunkle, Tiefe, — ins Böse.” Damit wird mit Nietzsche klar, daß eine Neue Anthropologie kein („sozialphilosophischer“) Beitrag zur „Erlösung“, zur „Aufhebung der Entfremdung“ etc., sein kann, sondern eine neue Freiheitsphilosophie im Gefolge haben wird. Denn was folgt nämlich nach Nietzsche im Zeitalter des Nihilismus aus der „formfordernden Gewalt des Nichts“ (Gottfried Benn)? Der Tod Gottes evoziert, und das hat zuerst ganz klar Ernst Jünger begriffen, eine schöpfungspraktische Konsequenz: die nämlich, daß damit „der erste Satz der neuen Genesis“ gesetzt sei, die aber dann — und das ist wiederum keine Hoffnung oder Trost — dem Menschen aufgegeben ist.
Mit der letzten Frage im Ecce homo: „Hat man mich verstanden? — Dionysos gegen den Gekreuzigten“, die als Inklusion (!) zu verstehen ist, wird Nietzsches Anthropologie deutlich als etwas, das mit Glaubensgeschichten (Mythen) anhebt, aber nicht aus ihnen entspringt. Es ist etwas, das sich performativ und narrativ konstituiert und damit zugleich unser gegenwärtiges Selbstverständnis und unseren Lebensalltag zu prägen imstande ist. — Denn dann, in seinen letzten klaren Augenblicken, sieht es Nietzsche plötzlich: In dem, was er an Dionysos schätzt, ist der Nazarener doch gar kein Antipode, sondern eher ein Bruder im Geiste — als Gekreuzigter wie jener als (von seinesgleichen) Zerrissener -, kurz: daß sie einander, und auch uns, gleichen. Mit Hölderlin gesagt: “In Knechtsgestalt, sind sie erkannt, / Die Allebendigen, die Kräfte der Götter. Des Vaters Strahl, der reine, versengt es nicht / Und tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren / Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen / Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest.”
Natürlich war das Druckmanuskript des Ecce homo der mit Abstand interessanteste und aufregendste Teil der Turiner Hinterlassenschaft Nietzsches (1889). Seit jener Zeit war das der Geheimtip für Nietzsche-Kenner. Noch ein Jahr vor dem (überraschenden) Erscheinen dieses Textes wurde im deutschen Feuilleton unruhig-fiebrig gefragt: “Und wie ist’s mit dem Ecce homo, diese unglaubliche Exstase fiebervoller Wortvisionen, jubelnd heller Landschaften? Viele Jahre hielt ihn Frau Förster-Nietzsche in dem “feuersicheren Schrank” zurück, weil das deutsche Volk noch nicht reif für den Unvergeßlichen etc. sei.”
Nietzsche selber begriff den Ecce homo als „die tragische Katastrophe meines Lebens, die mit dem ‘Ecce´ beginnt“ und die ihm besonders bei seinen Deutschen lange Zeit fast allen Kredit kosten sollte; denn, so Nietzsche weiter: “Ich habe mich dergestalt jenseits gestellt, nicht über das, was heute gilt und obenauf ist, sondern über die Menschheit”, und im übrigen: “ist das Buch reich an Scherzen und Bosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist, präsentire.”
In den Text, das heißt in das Manuskript, das Nietzsche selber noch an seinen Leipziger Verleger Naumann geschickt hatte, ist zweifach eingegriffen worden: erstens von Peter Gast, der ja nach Nietzsches Zusammenbruch Anfang Januar 1889 in Turin im Besitz des Manuskriptes war, weil er gemeinsam mit dem Meister die Drucklegung seit Dezember 1888 betrieben hatte. Gast fertigte sich dann eine eigene Abschrift des Ecce homo an.
An Franz Overbeck, kurze Zeit Vormund des kranken Nietzsche, schrieb er am 27. Februar 1889 treuherzig: “Nur wollte ich, daß Sie, verehrter Herr Professor, die Schrift [Ecce homo] erst aus meiner Copie kennen lernten, also ohne die Stellen, welche selbst mir den Eindruck zu großer Selbstberauschung oder gar zu weit gehender Verachtung und Ungerechtigkeit machen.” Und zweitens natürlich von Nietzsches Schwester und dem familiären Umfeld des Nietzsche-Archivs. Es habe Blätter gegeben, so schrieb sie in ihrer Nietzsche-Biographie, die sich gegen u.a. Cosima, Gast, Bernhard Förster, Schwester und Mutter richteten, und es “sind diese Blätter zum größten Teil vernichtet worden. Es würde das liebevolle Herz und den guten Geschmack meines Bruders auf das Tiefste verletzt haben, wenn ihm solche Niederschriften späterhin zu Gesicht gekommen wären.”
Im Archiv selber blieb das Konvolut dieses Textes auch den dort beschäftigten Herausgebern entzogen. Einer der einen Rausschmiß begründenden Vorwürfe, z.B. gegen die Brüder Horneffer, war: deren “stille Tätigkeit hinter dem Rücken der leitenden Persönlichkeiten gipfelte in dem Vertrauensbruch, dessen sie sich durch das heimliche Abschreiben des Ecce homo schuldig gemacht haben.”
Der Herausgeber Raoul Richter war seit 1904 außerordentlicher Professor für Philosophie in Leipzig. Er gehörte zum Stiftungsrat des Nietzschearchivs (seit 1908). Die Archivleiterin war der Familie Richter (Nachkommen von Giacomo Meyerbeer) persönlich sehr verbunden, namentlich Raouls Mutter Cornelie Richter, einer einflußreichen Berliner Salonire. Raoul Richter, ein Leipziger Studienfreund Harry Graf Kesslers, war einer der ersten deutschen Philosophen, die öffentliche Vorlesungen zum Werk Nietzsches veranstalteten und publizierten (1900/1901 in Leipzig).
Alles in allem wurde, jedenfalls in Deutschland, wie einmal der Nestor der deutschen Nietzscheforschung, Eugen Biser, geschrieben hat, Ecce homo weitgehend als ein befremdlicher Appendix mit einer psychopathologischen Hyperbel in Nietzsches Werk angesehen. Verborgen blieb dabei weitgehend, daß Nietzsche in Ecce homo mit dem Aufgebot seiner ganzen intellektuellen und künstlerischen Kraft auf den Einheitssinn seines Lebens und Werks reflektierte. Kurz: aus solchem Mißverstehen resultierte hier dann schließlich ein rezeptionsgeschichtliches Grundversäumnis, das es schwer machte, den „Ecce homo zu begreifen als ‘Schlüssel´ zum Grundkonzept seiner Gedanken und Werke.“ (Eugen Biser).
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Literatur:
- Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Buchgestaltung von Henry van de Velde, mit Nachwort des Herausgebers Raoul Richter, Leipzig o.J. [1908]
- Zur Textgeschichte, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], Bd. 14, München 1988, S. 454–512
- Steffen Dietzsch: Fin de sicle der Metaphysik — „Die Philosophie fängt an, wo der Respekt aufhört“. Raoul Richter als Nietzsche-Herausgeber, in: Rüdiger Schmidt-Grèply (Hrsg.): Auf Nietzsches Balkon. Philosophische Beiträge aus der Villa Silberblick, Weimar 2009, S. 8–33