1938 — Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich

Unter Öster­re­ich­ern ist es heute all­ge­mein­er Brauch, seine Zuge­hörigkeit zum deutschen Volk vehe­ment abzus­tre­it­en. Die Abgren­zung vom großen bun­des­deutschen Cousin ist eine Form der „Xeno­pho­bie“, die gesellschafts­fähig geblieben ist, wenn sie auch in Wahrheit nicht beson­ders tief reichen mag und eine Stichelei ist, die gle­ich­sam „in der Fam­i­lie“ bleibt.

Daß sich die Öster­re­ich­er vor 1945 mit einiger Selb­stver­ständlichkeit als Deutsche betra­chtet haben, ist in der Alpen­re­pub­lik weit­ge­hend in Vergessen­heit ger­at­en, wenn es nicht aktiv ver­drängt wurde. Die öster­re­ichis­che Sep­a­rati­den­tität hat sich jeden­falls der­art tief ins Selb­stver­ständ­nis der Öster­re­ich­er einge­fleis­cht, daß sich „großdeutsche“ poli­tis­che Sehn­süchte wohl für immer erledigt haben. Schuld daran ist iro­nis­cher­weise jen­er Öster­re­ich­er, der bere­its auf der ersten Seite seines Buch­es Mein Kampf pro­gram­ma­tisch verkün­det hat­te, daß „Deutschöster­re­ich“ wieder zum „großen deutschen Mut­ter­lande“ zurück­kehren müsse.

Daß dieser Gedanke keineswegs gen­uin nation­al­sozial­is­tisch war, ist heute eben­so vergessen wie die Tat­sache, daß sich die Hab­s­burg­er bis hin zu Kaiser Franz Joseph und Kaiser Karl als „deutsche Fürsten“ sahen. Bis zu sein­er Nieder­lage im Krieg gegen Preußen 1866 war Öster­re­ich Mit­glied im Deutschen Bund; sein Auss­chei­den als poten­tielle Führungs­macht der Reich­seini­gung ließ die seit 1848 gestellte „großdeutsche“ Frage offen.

Sie wurde 1918 erneut aufge­wor­fen, als vom Vielvölk­er­staat der Hab­s­burg­er ein klein­er Rest übrig­blieb, dessen Gren­zen im wesentlichen ent­lang des deutschen Volk­s­tums gezo­gen wur­den. Artikel 2 des „Geset­zes über die Staats- und Regierungs­form“ der am 12. Novem­ber 1918 aus­gerufe­nen „Repub­lik Deutschöster­re­ich“ unter dem sozialdemokratis­chen Staatskan­zler Karl Ren­ner lautete: „Deutschöster­re­ich ist ein Bestandteil der deutschen Repub­lik.“ Dieser Artikel wurde am 21. Okto­ber 1919 unter dem Druck der Sieger des Weltkrieges gestrichen, die das von Woodrow Wil­son propagierte „Selb­st­bes­tim­mungsrecht der Natio­nen“ schließlich zur Schwächung und nicht zur Stärkung ihrer besiegten Feinde einzuset­zen gedacht­en.

Im Pro­gramm der Sozialdemokratis­chen Partei blieb der Artikel allerd­ings weit­er­hin beste­hen, und als der Mährer Karl Ren­ner zwanzig Jahre später, am 3. April 1938, öffentlich seine Zus­tim­mung zum „Anschluß“ an das nun­mehr nation­al­sozial­is­tisch regierte Deutsche Reich bekan­nt­gab und seine „Genug­tu­ung für die Demü­ti­gun­gen von 1918 und 1919, für St. Ger­main und Ver­sailles“ äußerte, war er sich selb­st dur­chaus treu geblieben. Auch der Aus­tro­marx­ist Otto Bauer forderte seine Genossen auf, für den „Anschluß“ zu stim­men, da die nationale Ein­heit Voraus­set­zung für die gesamt­deutsche Rev­o­lu­tion sei. Und obwohl es zwis­chen Katho­liken und Nation­al­sozial­is­ten erhe­bliche Span­nun­gen gab, die sich in den näch­sten Monat­en heftig entlu­den, sprach sich auch der Wiener Erzbischof Kar­di­nal Innitzer öffentlich für den „Anschluß“ aus.

Doch auch die Ver­lier­er der März­tage des Jahres 1938, die Repräsen­tan­ten des „aus­tro­faschis­tis­chen“ christlich-sozialen Stän­destaats, der seit 1933 einen inneren Zweifron­tenkrieg gegen Sozial­is­ten und Nation­al­sozial­is­ten führte und um die Unab­hängigkeit Öster­re­ichs rang, ver­standen sich dur­chaus als Deutsche. In sein­er „Tra­bren­nplatzrede“ vom 11. Sep­tem­ber 1933 hat­te sich der später von nation­al­sozial­is­tis­chen Putschis­ten ermordete Bun­deskan­zler Engel­bert Doll­fuß unmißver­ständlich zum Deutsch­tum bekan­nt: „Wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Öster­re­ich. Wir sind so deutsch, so selb­stver­ständlich deutsch, daß es uns über­flüs­sig vorkommt, dies eigens zu beto­nen.“ Noch am 24. Feb­ru­ar 1938 verkün­dete sein Nach­fol­ger Kurt Schuschnigg: „Wir sind ein christlich­er Staat, wir sind ein deutsch­er Staat, wir sind ein freier Staat“, in ein­er Rede, die er mit den Worten schloß: „Bis in den Tod! Rot-weiß-rot!“

Zu diesem Zeit­punkt war das 1933 durch einen Staatsstre­ich an die Macht gekommene autoritäre Regime kaum mehr zu ret­ten: Es war nicht imstande gewe­sen, die soziale wie die nationale Frage zu lösen und den laten­ten Bürg­erkrieg zu befrieden, der 1934 im Feb­ru­a­rauf­s­tand der Sozialdemokrat­en und im Juliputsch der Nation­al­sozial­is­ten eskalierte. Mit den Ver­boten der NSDAP und der SDAP allein war die innere Lage nicht in den Griff zu bekom­men. Um sie zu entspan­nen und den poli­tis­chen Druck des Reich­es auf Öster­re­ich zu mildern, hat­te bere­its das „Juli­abkom­men“ des Jahres 1936 zwis­chen Wien und Berlin die nationale Oppo­si­tion erhe­blich gestärkt; im Feb­ru­ar 1938, als Hitler Schuschnigg nach Bercht­es­gaden bestellte, hat­te Öster­re­ich auch außen­poli­tisch kaum mehr Rück­endeck­ung, ins­beson­dere seit sich Mus­soli­ni zunehmend Rich­tung Deutsch­land wandte. Hitler forderte nun von Schuschnigg „unge­hin­derte poli­tis­che Betä­ti­gung für die öster­re­ichis­che NSDAP, die Ernen­nung eines Nation­al­sozial­is­ten zum Innen- und Polizei­min­is­ter, die Inte­gra­tion der öster­re­ichis­chen in die deutsche Wirtschaft und regelmäßige Besprechun­gen der Gen­er­al­stäbe“ (Karl­heinz Weiß­mann). Dadurch heizte sich die innen­poli­tis­che Atmo­sphäre noch mehr auf.

Am 9. März 1938 gab Schuschnigg bekan­nt, daß am 13. März eine Volks­be­fra­gung stat­tfind­en solle, und forderte seine Land­sleute auf, sich zur „Einigkeit“ und „Unab­hängigkeit“ Öster­re­ichs zu beken­nen. Das wurde nicht nur in Berlin als unerträgliche Pro­voka­tion gew­ertet — in der Folge kam es in Wien und anderen Lan­deshaupt­städten zu nation­al­sozial­is­tis­chen Erhe­bun­gen, Straßenkämpfen, anti­semi­tis­chen Auss­chre­itun­gen und lokalen „Machtüber­nah­men“. Hitler ergriff die Gele­gen­heit beim Schopf, zwang die öster­re­ichis­che Regierung per Ulti­ma­tum zum Rück­tritt und zur Ein­set­zung ein­er Regierung unter der Führung des Nation­al­sozial­is­ten Seyß-Inquart. Schuschnigg trat am Abend des 11. März zurück, und am 12. März über­schritt die Wehrma­cht die deutsch-öster­re­ichis­che Gren­ze, ohne auf Gegen­wehr zu stoßen. Die Trup­pen wur­den von der enthu­si­as­mierten Bevölkerung mit einem gewalti­gen Jubel begrüßt, wie auch Hitler selb­st am 13. März in sein­er Heimat­stadt Linz und am 15. März am Wiener Helden­platz.

Die über­raschende, weit­ge­hend gewalt­lose Annex­ion Öster­re­ichs wurde zu seinem bis dato größten außen­poli­tis­chen Tri­umph. Am 10. April fand eine kos­metis­che Volksab­stim­mung statt, die zu einem Ergeb­nis mit 99,73 Prozent Jas­tim­men für den „Anschluß“ führte. Dies war gewiß über weite Streck­en eine total­itäre Farce, jedoch ist kaum zu bezweifeln, daß zu diesem Zeit­punkt tat­säch­lich die über­wiegende Mehrheit der Öster­re­ich­er den „Anschluß“ min­destens „als his­torischen Fortschritt“ (Lothar Höbelt) befür­wortete. Inzwis­chen liefen die Schin­der­hüt­ten auf Hoch­touren, und zum Ende des Jahres waren Zehn­tausende Men­schen aus poli­tis­chen oder ras­sis­chen Grün­den ver­haftet wor­den. Viele waren aus dem Land geflüchtet oder hat­ten wie der Schrift­steller Egon Friedell Selb­st­mord began­gen. Öster­re­ichs nationale Iden­tität wurde durch die Umbe­nen­nung in „Ost­mark“ und später „Donau- und Alpen­re­ichs­gaue“ aufgelöst, um die Ver­schmelzung mit dem Reich zu beto­nen.

Bere­its während des Krieges ent­stand das später vielkri­tisierte Bild von Öster­re­ich als „erstem Opfer“ der nation­al­sozial­is­tis­chen Aggres­sion, etwa in der Moskauer Erk­lärung (1943) der alli­ierten Außen­min­is­ter: „Die Regierun­gen des Vere­inigten Kön­i­gre­ich­es, der Sow­je­tu­nion und der Vere­inigten Staat­en von Ameri­ka sind darin ein­er Mei­n­ung, daß Öster­re­ich, das erste freie Land, das der typ­is­chen Angriff­spoli­tik Hitlers zum Opfer fall­en sollte, von deutsch­er Herrschaft befre­it wer­den soll“, wobei zugle­ich daran erin­nert wurde, daß Öster­re­ich „für die Teil­nahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutsch­lands eine Ver­ant­wor­tung trägt“. Mit ein­er solchen Vor­lage fiel es Öster­re­ich weitaus leichter als Deutsch­land, die Nieder­lage von 1945 offiziell als „Befreiung“ auszugeben und die genan­nte „Ver­ant­wor­tung“ weit­ge­hend von sich zu weisen, mit der Folge, daß die soge­nan­nte „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung“ rel­a­tiv spät ein­set­zte, was den Öster­re­ich­ern in viel­er Hin­sicht dur­chaus zum Segen gedieh und sie weniger anfäl­lig für national­masochis­tis­che Kom­pen­sa­tio­nen und Erpres­sun­gen machte. In der „Öster­re­ichis­chen Unab­hängigkeit­serk­lärung“ der Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ vom 27. April 1945 wurde der „Anschluß“ für null und nichtig erk­lärt; Mitun­terze­ich­n­er war der pro­vi­sorische Regierungsvor­sitzende Karl Ren­ner. Der Staatsver­trag von 1955, der das Land in die Neu­tral­ität entließ, ver­bot schließlich die wirtschaftliche und poli­tis­che Vere­ini­gung zwis­chen Öster­re­ich und Deutsch­land.

Heute gilt der „Anschluß“ vor allem als immer­währen­der Schand­fleck in der Geschichte des Lan­des, wobei üblicher­weise die jubel­nden Massen auf dem Helden­platz mit den gedemütigten Juden kon­trastiert wer­den, die gezwun­gen wur­den, pro-öster­re­ichis­che Stän­destaat­parolen von der Straße zu waschen. Zum fün­fzigjähri­gen „Jubiläum“ des „Anschlusses“ schrieb Thomas Bern­hard 1988 das Skan­dal­stück Helden­platz, in dem dur­chaus gegen­warts­be­zo­gene Tiraden wie diese ste­hen: „Öster­re­ich selb­st ist nichts als eine Bühne / auf der alles ver­lot­tert und ver­mod­ert und verkom­men ist / eine in sich sel­ber ver­haßte Sta­tis­terie von sech­sein­halb Mil­lio­nen Allein­ge­lasse­nen / sech­sein­halb Mil­lio­nen Debile und Tob­süchtige / die unun­ter­brochen aus vollem Hals nach einem Regis­seur schreien“.

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Lit­er­atur:

  • Heinz Arn­berg­er (Hrsg.): „Anschluß“ 1938. Eine Doku­men­ta­tion, Wien 1988
  • Wal­ter Klein­del: „Gott schütze Öster­re­ich!“ Der Anschluß 1938, Wien 1988
  • Rein­hard Spitzy: So haben wir das Reich ver­spielt, München/Wien 1986
  • Karl­heinz Weiß­mann: Der Weg in den Abgrund, München 1997