1968 — Attentat auf Rudi Dutschke

Der Hil­f­sar­beit­er Josef Bach­mann schoß am 11. April 1968 auf dem Berlin­er Kur­fürs­ten­damm, vor dem Gebäude des Sozial­is­tis­chen Deutschen Stu­den­ten­bun­des (SDS), auf Rudi Dutschke und traf ihn dreimal. Die Schüsse gal­ten der Führungsper­son der dama­li­gen Stu­den­ten­proteste in der Bun­desre­pub­lik: Rudi Dutschke, der an den Spät­fol­gen dieses Angriffes ster­ben sollte, wird bis heute als der „68er“ und gewis­ser­maßen die per­son­ifizierte Revolte wahrgenom­men.

Selb­st Kri­tik­er der dama­li­gen Vorgänge hal­ten die bun­des­deutsche Protest­be­we­gung für das „wichtig­ste innen­poli­tis­che Ereig­nis langfristiger Bedeu­tung“ (Gerd Langguth). Doch trotz der ausufer­n­den Lit­er­atur bleibt eine Klärung der Begrif­flichkeit­en nach wie vor erforder­lich: So wird die Protest­be­we­gung vielfach stark verkürzt unter den grif­fi­gen Formeln „1968“ oder „68er-Bewe­gung“ sub­sum­iert (wobei let­zter­er Begriff nicht zeit­genös­sisch ver­wen­det wurde), wodurch sich der Fokus größ­ten­teils auf eben jenes „Epochen­jahr“ verengt hat und größere Ereigniszusam­men­hänge unzuläs­sig ver­wis­cht wer­den.

Denn neben dem dur­chaus ereignis­re­ichen Jahr 1968 spielte etwa die Erschießung des Stu­den­ten Ben­no Ohne­sorg am 2. Juni 1967 eben­falls eine große Rolle. Zudem wurde zeit­genös­sisch bere­its der Dezem­ber 1964 (Demon­stra­tion gegen den kon­gole­sis­chen Herrsch­er Moi­se Tschom­bè in West-Berlin) als „Beginn unser­er Kul­tur­rev­o­lu­tion“ (Dutschke) ange­se­hen. Die dama­li­gen Proteste und Demon­stra­tio­nen wur­den vornehm­lich von der Außer­par­la­men­tarischen Oppo­si­tion (APO) ini­ti­iert. Im Gegen­satz zu den 1950er Jahren, als Proteste z.B. noch eine Bindung zu poli­tis­chen Parteien aufgewiesen hat­ten, kon­sti­tu­ierte sich die neue Oppo­si­tion bewußt außer­par­la­men­tarisch und unab­hängig von den etablierten Insti­tu­tio­nen, welche nun zunehmend zum Angriff­sziel avancierten.

Der Begriff „APO“ sug­geriert eine ein­heitliche Organ­i­sa­tion mit geschlossen­em Pro­gramm und homo­ge­nen Zielvorstel­lun­gen; es han­delt sich jedoch um eine Sam­mel­beze­ich­nung für eher net­zw­erkar­tig verknüpfte Grup­pierun­gen aus dem gesamten linken Spek­trum, die bei ver­schiede­nen The­men spon­tan und informell miteinan­der kooperierten — mit jew­eils eige­nen Posi­tio­nen und Zielset­zun­gen zwis­chen Rev­o­lu­tion und Reform. Vor diesem Hin­ter­grund greifen auch die gängige Reduzierung der gesamten APO auf die Tätigkeit­en des SDS und die Vorstel­lung ein­er reinen „Stu­den­ten­be­we­gung“ zu kurz: Diese war ein gewichtiger Strang im Über­bau der APO und wurde wiederum selb­st vom SDS dominiert.

Der Stu­den­ten­bund war ein wesentlich­er Akteur der „Neuen Linken“: Bere­its in den 1950er Jahren hat­ten sich Grup­pen link­er Intellek­tueller von der sow­jet­marx­is­tis­chen Dok­trin abge­wandt und eigene Wege bestrit­ten, die sich durch vielfältige the­o­retis­che Ein­flüsse und einen ide­ol­o­gis­chen Eklek­tizis­mus ausze­ich­neten. Für das stu­den­tis­che Milieu hat­te vor allem Her­bert Mar­cuse den Begriff der „Neuen Linken“ konkretisiert und als Kennze­ichen u.a. die Abkehr vom ortho­dox­en Marx­is­mus-Lenin­is­mus sowie die Loslö­sung von der Fix­ierung auf die Arbeit­erk­lasse als rev­o­lu­tionäres Sub­jekt definiert. Vor allem die anti­au­toritäre Linke im SDS über­nahm Mar­cus­es Konzep­tion sowie den Begriff als Selb­st­beze­ich­nung.

In den The­o­rien und Aktio­nen zeigte sich ein rev­o­lu­tionär­er Selb­stanspruch, der jedoch der Auto­sug­ges­tion und ein­er falschen Selb­st­wahrnehmung der Aktivis­ten entsprang, die sich auf diese Weise in eine imag­inäre Zwangsläu­figkeit des Umsturzes hine­in­steigerten. Schnell ließen sich so eine zunehmende Gewalt­bere­itschaft sowie eine Ten­denz zur Mil­i­tarisierung fest­stellen.

Die Folge war, daß sich nach dem Zer­fall der Protest­be­we­gung viele Aktivis­ten in den Zusam­men­hän­gen des bun­des­deutschen Ter­ror­is­mus der Jahre 1970ff. wieder­fan­den. Entsprechend fanatisch wur­den Geg­n­er und Estab­lish­ment attack­iert — und trotz eines anti­au­toritären Selb­stver­ständ­niss­es ging dies oft mit ein­er Anmaßung, Arro­ganz sowie All­macht­sansprüchen der Neuen Linken ein­her, die sich im Namen des Antifaschis­mus und auf­grund ihres über­steigerten Moral­is­mus stets im Recht fühlten. Die Ankla­gen und Angriffe basierten vielfach auf Unter­stel­lun­gen und Manip­u­la­tio­nen pseudowis­senschaftlich­er Art: So wurde z.B. die naht­lose Kon­ti­nu­ität zum Nation­al­sozial­is­mus mitunter bewußt unter­stellt, um eine Restau­ra­tion des Faschis­mus im west­deutschen Teil­staat kon­stru­ieren zu kön­nen.

Bis heute hal­ten einige Apolo­geten krampfhaft an ein­er pos­i­tiv­en Bew­er­tung von „1968“ fest und ver­weisen auf eine damit ver­bun­dene Lib­er­al­isierung, Mod­ernisierung und Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Dage­gen spricht jedoch, daß zum einen die APO der 1960er Jahre eben nicht als Aus­lös­er der Verän­derun­gen im soziokul­turell-poli­tis­chen Bere­ich der Bun­desre­pub­lik ange­se­hen wer­den kann, da diese bere­its zuvor ein­geleit­et wor­den waren. Zum anderen läßt sich kaum mehr leug­nen, daß die Protest­be­we­gung im End­ef­fekt vielmehr „ein Desaster, ein Akt beispiel­los­er Sub­stanzver­nich­tung und Schwächung all dessen war, was noch vor der Dekadenz bewahrte“ (Karl­heinz Weiß­mann).

Sei es im Bil­dungs- und Erziehungs­bere­ich, in der Fam­i­lien­poli­tik, beim Ausleben eines kon­sum­fix­ierten Hedo­nis­mus und dem Abräu­men von Tra­di­tio­nen, oder im Rah­men von Antidiskri­m­inierungs­ge­set­zen, eines dok­trinären Antifaschis­mus und ein­er ein­seit­i­gen Geschicht­sauf­fas­sung: Die bis heute spür­baren Auswirkun­gen von „1968“ sowie deren Aus- und Weit­er­führung wer­den von ein­er „Wächter­gen­er­a­tion“ (Peter Furth), welche die Revolte her­vorge­bracht hat, kon­trol­liert.

Aber es gibt auch mögliche Anknüp­fungspunk­te: Rudi Dutschke hat­te, begleit­et vom Desin­ter­esse und Wider­stand sein­er Genossen, zeit seines Lebens das Ziel ein­er Wiedervere­ini­gung „von links“ ver­fol­gt. Die nationale Frage stellte sich bei ihm als kom­plexe Frage nach Iden­tität, Emanzi­pa­tion und nationaler Sou­veränität, wobei sich eine fehlende Selb­ständigkeit und ein fehlen­des Geschichts­be­wußt­sein als die entschei­den­den Hin­dernisse auf dem Weg zu ein­er von ihm präferierten sozial­is­tis­chen Wiedervere­ini­gung erwiesen.

Entsprechend forderte Dutschke zum einen die Loslö­sung bei­der Teile Deutsch­lands von den jew­eili­gen Super­mächt­en und ihren Bünd­nis­sys­te­men. Zum anderen rief er die Deutschen zur Verge­gen­wär­ti­gung und Verin­ner­lichung der Lebens- und Kul­turgeschichte sowie Klassenkampfer­fahrung des ganzen Lan­des auf — dies machte für ihn in der Summe die nationale Iden­tität aus. Dabei waren Nation, Inter­na­tion­al­is­mus und Sozial­is­mus inner­halb sein­er Konzep­tio­nen miteinan­der ver­woben und bed­ingten sich gegen­seit­ig.

Auch wenn Dutschkes Zielset­zun­gen auf­grund der ein­deutig linken und glob­alen Wen­dung nur schw­er kom­pat­i­bel mit den heuti­gen Entwür­fen der poli­tis­chen Recht­en sind, so dür­fen der hohe Stel­len­wert der nationalen Frage in seinen Konzep­tio­nen sowie sein expliziter Linkspa­tri­o­tismus keines­falls verkan­nt wer­den.

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Lit­er­atur:

  • Ger­rit Dworok/Christoph Weiß­mann (Hrsg.): 1968 und die „68er“. Ereignisse, Wirkun­gen und Kon­tro­ver­sen in der Bun­desre­pub­lik, Köln 2013
  • Wolf­gang Kraushaar: Achtund­sechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008
  • Matthias Stan­gel: Die Neue Linke und die nationale Frage. Deutsch­land­poli­tis­che Konzep­tio­nen und Ten­den­zen in der Außer­par­la­men­tarischen Oppo­si­tion (APO), Baden-Baden 2013