Der „heiße Herbst“ beginnt im April. „Offensive ’77“ nennt es die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) und proklamiert die Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zweier Begleiter am 7. April 1977 tolldreist als „Hinrichtung“. Ihr eigentliches Ziel erreichen sie nicht: die Freipressung von elf inhaftierten Gesinnungsgenossen, darunter die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Anführer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Indes: Am Ende des blutigen Jahres wird Buback nicht das letzte Opfer gewesen sein.
Rückblende. Deutschland, Frühling 1968. Als nach mehreren Brandanschlägen auf Frankfurter Kaufhäuser die Täter in Gestalt von Gudrun Ensslin und Andreas Baader zügig gefaßt werden, hält mancher Beobachter den „Spuk“ jener linksextremen Aktionen für beendet. Dann aber nutzen die Beschuldigten die Gelegenheit zur Flucht, als sie vor der Hauptverhandlung auf freien Fuß gesetzt werden.
Der erneuten Verhaftung Baaders folgt eine spektakuläre Befreiungsaktion im Lesesaal des Berliner Zentralinstituts für soziale Fragen: Am 14. Mai 1970 holen die Publizistin Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Hans Jürgen Becker, Astrid Proll, Irene Goergens und Ingrid Schubert ihren Komplizen Baader aus der Haft. Dabei wird ein Institutsangestellter durch einen Schuß schwer verletzt. Die Gruppe geht in den Untergrund, setzt sich nach Jordanien ab und nimmt an einer Militärausbildung in einem Palästinenserlager teil. Ohnehin zählen die palästinensische Fedajin und die südamerikanischen Stadtguerillas zu den Vorbildern der Bande, deren Weg in den organisierten Terrorismus nunmehr kaum umkehrbar ist.
Am 5. Juni druckt die Berliner Anarcho-Zeitung Agit 883 das „Gründungsdokument“ der Gruppe, die sich jetzt Rote Armee Fraktion nennt: „Um die Konflikte auf die Spitze treiben zu können, bauen wir die Rote Armee Fraktion auf.“ Ulrike Meinhof hebt in einem Interview mit der französischen Journalistin Michèle Ray hervor: “Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden!”
Den Worten folgen Taten. Mit einer Serie von Banküberfällen verschafft sich die Gruppe Liquidität. Nun ist auch die Staatsgewalt alarmiert und richtet im Februar 1971 eine Sonderkommission „Terrorismus“ ein. Nach der Verhaftung Horst Mahlers, neben Ulrike Meinhof der eigentliche Kopf der RAF, übernimmt Andreas Baader die Führung. Im April 1971 erscheint die Schrift RAF: Das Konzept Stadtguerilla.
Sie ist eng angelehnt an Carlos Marighellas Minihandbuch des Stadtguerillas, aber auch an Maximen über den revolutionären Krieg von Mao Tse-tung. Und in der Tarnschrift Die neue Straßenverkehrsordnung — Verfasser ist Untersuchungshäftling Horst Mahler — ist im Juni 1971 zu lesen: “Falsch wäre es, das Mittel des bewaffneten Kampfes erst einzusetzen, wenn die Zustimmung der Massen sicher ist, denn das hieße, auf den Kampf gänzlich zu verzichten, weil diese Zustimmung der Massen allein durch den Kampf erreicht werden kann.”
Mehrere Großfahndungen münden in Schießereien, bei denen Polizisten getötet werden. Zugleich erhöht die RAF die Schlagzahl. Im Mai 1972 erreicht der Terror eine bis dato in Deutschland ungekannte Dimension und fordert Tote und Verletzte. Innerhalb weniger Tage werden Anschläge auf das V. US-Korps in Frankfurt am Main, die Polizeidirektion Augsburg, das Landeskriminalamt München, den Wagen eines Bundesrichters und das Axel-Springer-Gebäude in Berlin verübt. Zudem explodieren Autobomben vor dem Europahauptquartier der US-Armee. In der Sympathisantenszene, in der die Häftlinge angesichts vermeintlicher „Isolationshaft“ und „Folter“ ausführlich bemitleidet werden, ist der Beifall groß.
Dann erzielen auch die Ermittlungsbehörden einen Erfolg: Bei der größten Ringfahndung in der Geschichte der Bundesrepublik werden im Juni 1972 Andreas Baader, Holger Meins, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof sowie zahlreiche Weggefährten und Unterstützer der Terroristen verhaftet. Ab Januar 1973 versuchen die Verhafteten im Zuge von mehreren spektakulären Hungerstreiks der Bundesanwaltschaft bessere Haftbedingungen abzuzwingen. Holger Meins bezahlt diesen Entschluß am 9. November 1974 mit seinem Leben.
Tags darauf ermorden seine Gesinnungsgenossen — die Rede ist nun von der „zweiten Generation“ der RAF — den ranghöchsten Richter West-Berlins, Günter von Drenkmann. Als Anfang 1975 auch noch der Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz entführt wird, gibt die Bundesanwaltschaft schließlich den Forderungen der Entführer nach. Lorenz wird freigelassen, und die RAF-Häftlinge erfreuen sich erheblicher Hafterleichterungen.
Dessen ungeachtet geht der Terror weiter. Am 25. April 1975 besetzt ein „Kommando Holger Meins“ die deutsche Botschaft in Stockholm, die Befreiung der Geiseln durch die Polizei fordert drei Todesopfer und mehrere Schwerverletzte. Am 9. Mai 1976 begeht Ulrike Meinhof im Gefängnis Selbstmord — nach Interpretation der auf freiem Fuß befindlichen Genossen ein „Mord im staatlichen Auftrag“, der mit aller verfügbaren Brutalität gerächt werden soll.
Nach dem Mord an Generalstaatsanwalt Buback wird am 30. Juli 1977 bei einer mißglückten Geiselnahme durch Brigitte Mohnhaupt, Susanne Albrecht und Christian Klar der Bankier Jürgen Ponto erschossen. Und wieder gibt es Applaus: In einer Göttiger AStA-Zeitung teilt Autor „Mescalero“ mit, daß er angesichts der Ermordung Bubacks „klammheimliche Freude“ verspüre. Und ein Jahr danach schreibt der spätere Außenminister Joseph Fischer in der Frankfurter Sponti-Zeitung Pflasterstrand: “Bei den hohen Herren mag mir keine rechte Trauer aufkommen, das sag ich ganz offen.”
Um elf RAF-Mitglieder freizupressen, ist zu diesem Zeitpunkt längst auch Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ins Visier der Terroristen geraten. Seinem Dienstwagen lauert am Nachmittag des 5. September nahe seiner Kölner Wohnung das Terrorkommando „Siegfried Hausner“ auf, gibt in eineinhalb Minuten weit über hundert Schüsse ab, tötet den Fahrer und die drei Personenschützer Schleyers und bringt das frühere Mitglied von NSDAP und Waffen-SS in seine Gewalt. Doch Bundeskanzler Helmut Schmidt lehnt es ab, mit den Terroristen zu verhandeln. Diese legen nach.
Fünf Wochen später, am 13. Oktober 1977, entführen vier palästinensische Terroristen die Lufthansa-Boeing 737 „Landshut“ auf dem Flug von Palma de Mallorca nach Frankfurt am Main und erschießen den Piloten. Auch sie fordern die Freilassung der RAF-Häftlinge. Vier Tage später dringt eine Spezialeinheit der GSG‑9 in die Maschine ein und überwältigt das Kommando „Martyr Halimeh“. Am selben Tag wird Hanns Martin Schleyer von seinen Entführern im elsässischen Mülhausen durch Genickschüsse ermordet. Baader, Raspe und Ensslin begehen im Gefängnis Selbstmord. Wenngleich auch ihr Tod zum staatlich organisierten Mord verklärt wird, findet die Geschichte der ersten RAF-Generation damit ihr Ende. Von den verbliebenen Terroristen der Anfangsjahre finden viele eine neue Heimat in der DDR, welche sie mit neuen Identitäten versieht und auf diese Weise vor der drohenden Verhaftung und Verurteilung in Westdeutschland schützt.
Die dritte Generation der RAF kooperiert eng mit der französischen Terrorgruppe „Action directe“ und verübt in den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre Attentate auf US-Zivil- und Militärvertretungen in Europa sowie auf Vertreter der Bundesanwaltschaft. 1986 werden in Straßlach der Siemens-Manager Karlheinz Beckurts und vor seinem Bonner Wohnhaus der deutsche Diplomat Gerold von Braunmühl erschossen. Die RAF ermordet am 30. November 1989 den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, verübt am 27. Juli 1990 einen Anschlag auf Staatssekretär Hans Neusel und tötet am 1. April 1991 Treuhand-Chef Detlev Rohwedder.
Am 10. April 1992 kündigt die Rote Armee Fraktion in einer Erklärung an, die „Eskalation vorläufig zurückzunehmen“. 1993 zieht ein Einsatz der Bundesgrenzschutz-Spezialeinheit GSG 9 im mecklenburgischen Bad Kleinen den Rücktritt von Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) nach sich, weil bei der Verhaftung zweier RAF-Mitglieder, die in einem Schußwechsel mündet, der Terrorist Wolfgang Grams und der Polizeibeamte Michael Newrzella getötet werden. Am 20. April 1998 gibt die Terrororganisation schließlich ihre Selbstauflösung bekannt. Ihre Blutspur nach 28 Jahren ist lang: Mehr als 35 Morde gehen auf ihr Konto.
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Literatur:
- Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, Köln 2001
- Wolfgang Kraushaar: Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006
- Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus, München 2007