1978 — Hans Filbinger tritt als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurück

„Was damals Recht­ens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Es war dieser aus dem Inter­viewzusam­men­hang geris­sene Satz, der im Jahre 1978 das poli­tis­che Schick­sal des seit 1966 amtieren­den CDU-Min­is­ter­präsi­den­ten Baden-Würt­tem­bergs, Hans Fil­bingers, besiegeln sollte.

Die Worte, die Fil­binger selb­st auf die fort­dauernde Gel­tung vor 1933 in Kraft getrete­nen Mil­itär­rechts bezog, wur­den in der Zeit im Sinne der in den Nachkriegs­jahrzehn­ten dur­chaus üblichen These von ein­er Recht­skon­ti­nu­ität zwis­chen Drit­tem Reich und Bun­desre­pub­lik als „schreck­lich­er Recht­spos­i­tivis­mus“ (Hans May­er) hingestellt. Der Min­is­ter­präsi­dent — der während des Zweit­en Weltkriegs als Mariner­ichter gedi­ent hat­te — wolle demzu­folge damit die NS-(Kriegs-)Justiz recht­fer­ti­gen. Diese galt seit For­mulierung der soge­nan­nten Rad­bruch­schen Formel (1946) ins­ge­samt als „unerträglich ungerecht“, und ihre Nichtigkeit war damit aus sich selb­st her­aus evi­dent. Bun­des­gericht­shof und Bun­destag soll­ten dem ab Mitte der 1990er Jahre durch die sukzes­sive Aufhe­bung von Urteilen der nation­al­sozial­is­tis­chen Jus­ti­zor­gane und die Reha­bil­i­tierung der davon Betrof­fe­nen Rech­nung tra­gen — bis hin zur pauschalen Aufhe­bung aller Mil­itärg­ericht­surteile gegen Wehrma­chts­de­ser­teure 2002.

Den Auf­takt der „Fil­binger-Affäre“ bildete 1972 ein Spiegel-Bericht über den Wehrma­chtssol­dat­en Kurt Olaf Pet­zold, der sich in britis­ch­er Kriegs­ge­fan­gen­schaft die Hoheit­sze­ichen von der Uni­form geris­sen und Mit­ge­fan­gene als „Naz­i­hunde“ beze­ich­net hat­te. Mariner­ichter Fil­binger — die Briten hat­ten die Struk­turen der deutschen Mil­itärg­erichts­barkeit auch nach Kriegsende intakt gelassen — verurteilte ihn dafür am 1. Juni 1945 auf­grund eines „hohen Maß[es] von Gesin­nungsver­fall“ zu sechs Monat­en Gefäng­nis; Pet­zold habe „zer­set­zend und aufwiegel­nd“ gehan­delt.

Im Gespräch mit dem Ham­burg­er Mag­a­zin gab Pet­zold an, Fil­binger habe im Rah­men des Ver­fahrens außer­dem an „unseren geliebten Führer“ erin­nert. Der Ange­grif­f­ene ging mit ein­er Unter­las­sungsklage (der stattgegeben wurde) gegen diese Vor­würfe vor und betonte, als dezi­diert­er Christ Geg­n­er des Regimes gewe­sen zu sein sowie mehrfach als Unbeteiligter erfol­gre­ich in laufende Kriegs­gerichtsver­fahren einge­grif­f­en zu haben, um die Angeklagten vor der Todesstrafe zu bewahren.

Sechs Jahre später, im Feb­ru­ar 1978, griff der Schrift­steller Rolf Hochhuth — der bere­its in seinem Debüt Der Stel­lvertreter von 1963 wegen vorge­blich­er Ver­strick­un­gen mit dem Nation­al­sozial­is­mus schärf­ste Vor­würfe gegen die katholis­che Kirche erhoben hat­te — die Vor­würfe gegen Fil­binger wieder auf und beze­ich­nete diesen im Rah­men eines Vor­ab­drucks des Romans Eine Liebe in Deutsch­land in der Zeit als „Hitlers Mariner­ichter, der sog­ar noch in britis­ch­er Gefan­gen­schaft nach Hitlers Tod einen deutschen Matrosen mit Nazi-Geset­zen ver­fol­gt“ habe und ver­mut­lich nur auf­grund von Strafvere­it­elung durch Juris­tenkol­le­gen über­haupt noch auf freiem Fuß sei. Fil­binger klagte erneut auf Unter­las­sung; das zuständi­ge Landgericht unter­sagte daraufhin Hochhuth den zweit­en Teil sein­er Unter­stel­lun­gen, den der Schrift­steller in der Zwis­chen­zeit selb­st zurückgenom­men hat­te.

Zum Prob­lem wurde, daß Fil­binger auch die Zeit gerichtlich verpflicht­en wollte, Hochhuths Ein­las­sun­gen nicht weit­er abzu­druck­en. Für das anhängige Ver­fahren gewährte das Bun­de­sarchiv Ein­blick in die betr­e­f­fend­en Mari­negericht­sak­ten, wo Hochhuth den Fall des Matrosen Wal­ter Gröger vor­fand und diesen im Mai 1978 bun­desweit bekan­nt­machte. Gröger war 1943 für vier Wochen abgängig von der Truppe und erwog, sich mit sein­er nor­wegis­chen Fre­undin ins neu­trale Schwe­den abzuset­zen, wurde jedoch vor Umset­zung des Plans ver­haftet und im März 1944 wegen vol­len­de­ter Fah­nen­flucht im Felde zu ein­er achtjähri­gen Zuchthausstrafe verurteilt. Dieses Urteil wurde jedoch vom zuständi­gen Ober­be­fehlshaber und Gericht­sher­rn aufge­hoben und an das Kriegs­gericht zurück­ver­wiesen, „weil auf Todesstrafe hätte erkan­nt wer­den sollen“. Der bish­erige Vertreter der Anklage wurde für die Neu­ver­hand­lung im Jan­u­ar 1945, in der die Todesstrafe als „einzig angemessene Sühne“ ver­hängt wurde, durch Fil­binger erset­zt. Auch an der Erschießung des Deser­teurs am 16. März nahm Fil­binger als lei­t­en­der Offizier teil.

Dieser und weit­ere Vorgänge aus Fil­bingers Zeit als Marine­jurist wur­den mas­siv skan­dal­isiert. Den let­zten Schlag ver­set­zte dem wank­enden Poli­tik­er die Anprangerung sein­er obi­gen Äußerung zur Gültigkeit des all­ge­meinen Kriegsrechts. In der Folge wandten sich seine Parteifre­unde großteils von ihm ab, und sein Rück­halt in der Öffentlichkeit schwand. Am 7. August 1978 trat Fil­binger als Min­is­ter­präsi­dent zurück und bemühte sich for­t­an bis zu seinem Tod 2007 um eine öffentliche Reha­bil­i­tierung. Ver­dachtsmo­mente, daß das DDR-Min­is­teri­um für Staatssicher­heit eine Rolle bei der Lancierung der medi­alen Jagd auf ihn gespielt haben kön­nte, wur­den bis heute nicht erhärtet.

Die Kam­pagne gegen Hans Fil­binger ist im Kon­text ein­er geschicht­spoli­tis­chen Einen­gung zuge­lassen­er Sichtweisen auf die deutsche Ver­gan­gen­heit und des Miß­trauens gegenüber kon­ser­v­a­tiv­en Inhab­ern gesellschaftlich­er und poli­tis­ch­er Schnittstel­len­funk­tio­nen zu sehen, die Ende der 1970er Jahre — neben der Fil­binger-Affäre etwa mit dem „Skan­dal“ um das Buch Geschichte der Deutschen des Erlanger His­torik­ers Hell­mut Diwald im sel­ben Jahr — zunahm, um über die „Bit­burg-Kon­tro­verse“ und die Ansprache des Bun­de­spräsi­den­ten Richard von Weizsäck­er zum 40. Jahrestag des Kriegsendes (bei­de 1985) schließlich in den His­torik­er­stre­it von 1986/87 zu mün­den.

Ein poli­tis­ches Nach­beben stellte sich beina­he 30 Jahre später ein, als am 11. April 2007 der dama­lige baden-würt­tem­ber­gis­che Min­is­ter­präsi­dent Gün­ther Oet­tinger Fil­binger in der Trauerrede beim Staat­sakt zu dessen Begräb­nis zugute hielt, er habe „sich den Zwän­gen des Regimes eben­sowenig entziehen [kön­nen] wie Mil­lio­nen andere“, und es gebe „kein Urteil von Hans Fil­binger, durch das ein Men­sch sein Leben ver­loren hätte“. Gegenüber der sofort auf­bran­den­den Kri­tik, die neben Bun­deskan­z­lerin Angela Merkel und dem Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land aber­mals maßge­blich von Rolf Hochhuth vorge­bracht wurde, behar­rte Oet­tinger kurzzeit­ig auf seinen Aus­sagen („Meine Rede war öffentlich, ernst gemeint, und die bleibt so ste­hen“), dis­tanzierte sich jedoch am 16. April des­sel­ben Jahres öffentlich vom Gesagten.

– — –

Lit­er­atur:

  • Gün­ther Gillessen: Der Fall Fil­binger. Ein Rück­blick auf die Kam­pagne und die his­torischen Fak­ten; in: Die poli­tis­che Mei­n­ung 408 (11/2003), S. 67–74
  • Jörg Musi­ol: Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung in der Bun­desre­pub­lik. Kon­ti­nu­ität und Wan­del in den späten 1970er Jahren, Mar­burg 2006
  • Franz Neubauer: Der öffentliche Ruf­mord. Der Fall Fil­binger als ein Fall der Mei­n­ungs­mach­er, Regens­burg 2007