1989 — Die Berliner Mauer fällt

Der 9. Novem­ber gilt gemein­hin als Schick­sal­stag der Deutschen. Denn dieser Tag vere­int geschichtliche Ereignisse, die auss­chlaggebend für Iden­tität und Zukun­ft unser­er Nation wur­den und sie bis in die Gegen­wart prä­gen. Sei es die linksrev­o­lu­tionäre Aus­ru­fung der „deutschen Repub­lik“ an einem Sam­stag 1918 oder der radikal-reak­tionäre „Marsch auf die Feld­her­rn­halle“ Münchens an einem Fre­itag 1923. Sei es die offen anti­semi­tis­che „Reich­skristall­nacht“ an einem Mittwoch 1938 oder der West­ber­lin­er Frei­heit­sap­pell des Ober­bürg­er­meis­ters Ernst Reuter während der sow­jetis­chen Berlin-Block­ade an einem Dien­stag 1948. Sie alle hin­ter­ließen Spuren, zum Teil auch Wun­den im Rah­men deutsch­er Iden­tität — so auch jenes Ereig­nis, das über Nacht, aber nur für kurze Zeit, „das deutsche Volk [zum] glück­lich­sten Volk der Welt“ (Wal­ter Mom­per) machen sollte.

Der 9. Novem­ber 1989 fiel auf einen Don­ner­stag. Der Druck auf die Nomen­klatu­ra der SED stieg seit dem Beginn der Unruhen, die später als „Friedliche Rev­o­lu­tion“ beze­ich­net wer­den soll­ten, vor allem in bezug auf die Frage der Reise­frei­heit. Der „Gefühlsstau“ (Hans-Joachim Maaz) des Volkes im Land machte sich zuse­hends Luft. Bis zum 8. Novem­ber 1989 waren seit August jenes Jahres mehr als 40000 DDR-Bürg­er über die Tsche­choslowakei und Ungarn gen West­en gereist, ein „beispiel­los­er, bedrück­ender Vor­gang“, wie auch Bun­deskan­zler Hel­mut Kohl an diesem Vortage im Bericht zur Lage der Nation ver­sicherte.

Gegen neun Uhr trafen sich im DDR-Innen­min­is­teri­um in der Behren­straße, einem ehe­ma­li­gen Gebäudekom­plex der Deutschen Bank, vier Offiziere des Innen­min­is­teri­ums (MdI) — als Vertreter der polizeilichen Gewalt — und des Min­is­teri­ums für Staatssicher­heit (MfS), um im Auf­trag des Polit­büros der SED, des höch­sten Entschei­dung­sor­gans der Regierungspartei, eine neue Reis­eregelung für DDR-Bürg­er zu entwer­fen. Dabei herrschte Einigkeit, daß in der aktuellen Sit­u­a­tion jede restrik­tive Form bei Anträ­gen zur (ständi­gen) Aus­reise aus der DDR unterbleiben solle. Es ging aber nicht, auch wenn der Pas­sus von „Pri­va­treisen“ für Bürg­er der DDR in das west­liche Aus­land in dem Entwurf vorkam, um all­ge­meine Reise­frei­heit, son­dern bezog sich auf Besitzer von Reisepässen und entsprechen­den Visa.

Eine Stunde später begann eine Beratung des Zen­tralkomi­tees (ZK) der SED, des höch­sten Beschlußor­gans der Regierungspartei, in deren Ver­lauf Mit­glieder des Polit­büros den Reis­eregelungsen­twurf bestätigten und an den Min­is­ter­rat als höch­sten Exeku­tivor­gan des Lan­des über­wiesen. Im Rah­men der Sitzung wurde zugle­ich der refor­mori­en­tiert agierende Hans Mod­row, vor­mals SED-Parte­ichef von Dres­den, zum desig­nierten Min­is­ter­präsi­den­ten gewählt. Den­noch blieb der Druck von älteren Partei- und Staats­funk­tionären wie dem Innen­min­is­ter Friedrich Dick­el erhal­ten, „diese Gren­zen zu schützen, solange wir diesem Auf­trag haben“. Während­dessen liefen die Feinar­beit­en an den Durch­führungs­bes­tim­mungen der neuent­wor­fe­nen Reis­eregelung.

Nach dem Ende der reg­ulären Mit­tagspause erhielt Egon Krenz, Inter­im­sregierungschef der DDR, kurz vor Beginn der Sitzung gegen 15.30 Uhr den inzwis­chen durch den Min­is­ter­rat übergebe­nen Entwurf für die neuent­wor­fene Rei­severord­nung. Eine halbe Stunde später wurde dieser dem ZK der SED als „Vorschlag“ vorgestellt. Die nach­fol­gende, eher impul­sive Diskus­sion führte zur kurzfristi­gen Entschei­dung, diese Regelung (mit eini­gen for­malen Abwand­lun­gen) in Kraft zu set­zen, sie allerd­ings nicht über das Innen­min­is­teri­um, son­dern auf kurzem Wege gle­ich über den Regierungssprech­er zu veröf­fentlichen. Damit erhielt der Sprech­er des SED-Zen­tralkomi­tees Gün­ter Sch­abows­ki die Min­is­ter­rats­beschlußvor­lage und eine dazuge­hörige Pressemit­teilung.

Um 18 Uhr begann eine live auch vom DDR-Fernse­hen über­tra­gene inter­na­tionale Pressekon­ferenz. Sch­abows­ki präsen­tierte die Ergeb­nisse der ZK-Tagung. Um 18.53 Uhr stellte ein Kor­re­spon­dent der ital­ienis­chen Agen­tur ANSA eine Frage zum Reisege­setz, auf die Sch­abows­ki unsich­er und umständlich reagierte. Schließlich nahm er Bezug zur neuent­wor­fe­nen Reis­eregelung: “Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu tre­f­fen, die es jedem Bürg­er der DDR möglich macht, über Gren­züber­gangspunk­te der DDR auszureisen.” Auf die Rück­frage „Gilt das auch für West-Berlin?“ las Sch­abows­ki weit­er: “Die ständi­ge Aus­reise kann über alle Gren­züber­gangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfol­gen.” Die nach­fol­gende Zwis­chen­frage über den Zeit­punkt des Inkraft­tretens der Regelung ließ den deut­lich irri­tierten Sch­abows­ki kurz vor 19 Uhr wörtlich antworten: „Das tritt nach mein­er Ken­nt­nis … ist das sofort, unverzüglich” — und set­zte damit eine unaufhalt­bare Welle in Gang, an deren Ende die Ein­heit Deutsch­lands stand.

Die Ver­bre­itung der Nachricht über alle Fernsehsender führte bei vie­len DDR-Bürg­ern zur Annahme, daß noch in der Nacht des 9. Novem­ber alle West­gren­zen der DDR geöffnet wür­den. Von dieser eher mißver­stande­nen Infor­ma­tion angetrieben, zogen nun Tausende Ost­ber­lin­er und Gäste zu den Gren­zübergän­gen und erwarteten die sofor­tige Öff­nung. Die DDR-Gren­ztrup­pen sahen sich in einem Dilem­ma, denn über eine Gren­zöff­nung hat­ten sie kein­er­lei Infor­ma­tio­nen. Eben­so über­rascht schienen auch die zuständi­gen Paßkon­trollein­heit­en des MfS und die Führung der Sow­je­tarmee in Ost-Berlin. Die Lage spitzte sich zu.

Gegen 20.30 Uhr ver­sam­melten sich die ersten Men­schen am Gren­züber­gang Born­holmer Straße, ein­er von 13 befahrbaren Gren­züber­gang­stellen nach West-Berlin. Weit­ere Men­schen fan­den sich an den Gren­zübergän­gen Invali­den­straße und Hein­rich-Heine-Straße ein, um der erwarteten Gren­zöff­nung ent­ge­gen­zuse­hen. Die Gren­z­sol­dat­en erhiel­ten Anweisung, die Men­schen auf den kom­menden Fre­itag zu ver­weisen und zurück­zuschick­en. Gegen 21.30 Uhr waren es fast 1000 Men­schen, die an der Born­holmer Straße auf die ver­meintlich ver­sproch­ene Gren­zöff­nung warteten. Bald kam es zu ersten Tumul­ten, und der Ruf erscholl immer lauter: „Tor auf! Tor auf!“

Die Staats­führung der DDR war nach dem Ende ihrer ZK-Sitzung, wie auch nach­fol­gend alle anderen Regierun­gen des Ost- und West­blocks, vol­lkom­men von den aktuellen Ereignis­sen über­rascht. In ein­er Spä­taus­gabe der „Aktuellen Kam­era“ wurde deshalb der Ver­such unter­nom­men, auf die Notwendigkeit ein­er Beantra­gung von Pri­vat- oder Aus­reisen in das west­liche Aus­land zu ver­weisen. Er fruchtete nicht. Schon längst ver­bre­it­eten west­liche Agen­turen die Nachricht: „DDR öffnet Gren­ze“.

Um 23 Uhr spitzte sich die Lage an der Born­holmer Straße der­art zu, daß Gren­ztrup­pen und MfS auf eine „Ven­til­lö­sung“ set­zten. Etwa eine halbe Stunde vor Mit­ter­nacht entschloß sich der stel­lvertre­tende Leit­er der Paßkon­trollein­heit, Ober­stleut­nant Har­ald Jäger, den Schlag­baum zu öff­nen und den Gren­züber­gang „zu fluten“. Noch geschah es mit der Zielset­zung, „die Ord­nung wieder­herzustellen“ und beson­ders „pro­vokan­ten Bürg­ern“ durch Stem­pelung auf das Licht­bild des Per­son­alausweis­es (ohne deren Wis­sen) fak­tisch die Wiedere­in­reise zu ver­weigern. Doch der Druck der Straße stieg, so daß die Gren­ztrup­pen schließlich jeden DDR-Bürg­er nach Vorzeigen des Per­son­alausweis­es ohne Abfer­ti­gung durch­ließen. Etwa zur sel­ben Zeit fie­len auch an weit­eren Gren­züber­gangsstellen die Schranken. Gegen Mit­ter­nacht waren alle Gren­züber­gangsstellen gen West­en offen, und an den Zufahrtsstraßen entwick­el­ten sich kilo­me­ter­lange Staus.

Bis zwei Uhr am Mor­gen des 10. Novem­ber über­wan­den Tausende Men­schen die Mauer am Bran­den­burg­er Tor, gin­gen über den abgeriegel­ten Paris­er Platz und tanzten auf den Wällen der noch beste­hen­den DDR-Staats­gren­ze. Die ersten „Mauer­spechte“ began­nen zugle­ich ihre Arbeit mit Ham­mer und Meißel. Die DDR-Nachricht­ensender melde­ten unter Beru­fung auf das Innen­min­is­teri­um, daß die Gren­zen zur BRD und West-Berlin „als Über­gangsregelung“ bis zum näch­sten Tag acht Uhr unter Vor­lage des Per­son­alausweis­es von jedem DDR-Bürg­er passiert wer­den kön­nten.

Doch auch diese „Ven­til­lö­sung“ kon­nte den Weit­erbe­stand der DDR nicht sich­ern. Viel zu lange hat­ten Mauer und Stachel­draht die Rah­menbe­din­gung der Exis­tenz des „ersten sozial­is­tis­chen Staates auf deutschem Boden“ gebildet, viel zu sehr hat­te die para­noid erscheinende Abschot­tung ihrer Bürg­er die SED-Staats­führung zur irri­gen Annahme geführt, eine eigen­ständi­ge Nation­alkul­tur „in den Far­ben der DDR“ entwick­eln und in die Köpfe einpflanzen zu kön­nen, viel zu teuer war diese Gren­ze mit bis zu 238 Toten, darunter in den ersten Jahren der Mauer auch Kinder, bezahlt wor­den.

Noch in den Abend­stun­den des 9. Novem­ber erhob sich der Bun­destag nach Unter­brechung sein­er Sitzung, und alle Frak­tio­nen stimmten die Nation­al­hymne an. In den Nacht­stun­den ergoß sich ein erstes Flaggen­meer an schwarzrot­gold­e­nen Fah­nen, und Willy Brandt, ehe­ma­liger West­ber­lin­er Bürg­er­meis­ter, Ex-Bun­deskan­zler und SPD-Spitzen­poli­tik­er, for­mulierte Worte neu, die er sin­ngemäß schon am drit­ten Jahrestag des Baus der Berlin­er Mauer von sich gegeben hat­te. Damals äußerte er: “Deutsch­land muß vere­inigt wer­den, damit zusam­menge­fügt wird, was zusam­menge­hört.” Und 25 Jahre später nun: „Jet­zt wächst zusam­men, was zusam­menge­hört.“

– — –

Lit­er­atur:

  • Ger­hard Haase-Hin­den­berg: Der Mann, der die Mauer öffnete. Warum Ober­stleut­nant Har­ald Jäger den Befehl ver­weigerte und damit Welt­geschichte schrieb, München 2007
  • Hans-Her­mann Her­tle: Chronik des Mauer­falls. Die drama­tis­chen Ereignisse um den 9. Novem­ber 1989, Berlin 2006