In der Nacht zum Tag der Deutschen Einheit des Jahres 2000 flogen ein Stein und drei Brandsätze gegen das Portal der Düsseldorfer Neuen Synagoge an der Zietenstraße. Der Sachschaden war minimal, auch weil eine Anwohnerin den Brand umgehend gelöscht hatte.
Gleichwohl nahm der Vorfall innerhalb von zwei Tagen den Charakter einer nationalen Katastrophe an, was insbesondere das Verdienst des seinerzeitigen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) war. Dieser traf sich am 4. Oktober mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement (SPD) und dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, zu einer Besichtigung des Tatorts in Düsseldorf und wandte sich noch vor Ort mit einem Appell an die versammelten Medienvertreter, der in der Folge zum geflügelten Wort werden sollte: “Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen, wegschauen ist nicht mehr erlaubt!”
Er äußerte ausdrücklich, daß es ihm um die Herausbildung eines Maßes an „Zivilcourage“ gehe, das (antisemitische) Straftäter nicht nur kriminalisiere, sondern auch aktiv aus der Gesellschaft isoliere. Die Bundesregierung ihrerseits werde alle denkbaren Mittel ergreifen, um jüdische Einrichtungen in Deutschland zu schützen und sicherzustellen, „daß Menschen jüdischen Glaubens ohne Angst hier leben können“.
Auch Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) appellierte an die Bevölkerung, deren Mehrheit doch mit solch „verabscheuungswürdigen Taten“ nichts zu tun habe, bei der Ergreifung der Täter mitzuwirken, um zu verhindern, „daß sich das jüdische Leben aus Deutschland wieder zurückzieht“. Schröder forderte, ebenso die Täter zu bestrafen — noch am selben Tag erhöhte Clement die Belohnung für die Ergreifung der Schuldigen von 10000 auf 25000 Deutsche Mark — wie „die politischen Strukturen, die sie schützen“, zu zerschlagen.
Der Bundeskanzler griff damit seiner eigenen Initiative vor: Ein Vierteljahr später sollte seine Bundesregierung am 30. Januar 2001 einen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) beim Bundesverfassungsgericht einreichen, dem sich in der Folge Bundestag und Bundesrat mit je eigenen Verbotsanträgen anschlossen. Dieses NPD-Verbotsverfahren, das im März 2003 aus Verfahrensgründen eingestellt werden sollte, entwickelte sich zum handfesten Skandal für die Innenbehörden der Bundesrepublik, als sich der Verdacht erhärtete, daß der gesamte nordrhein-westfälische Landesverband der NPD durch das dortige Landesamt für Verfassungsschutz gesteuert werde: Der Landesvorsitzende der Partei, sein Stellvertreter und der Schriftleiter der dortigen Parteizeitung wurden im Verfahrensverlauf als Vertrauensleute des Verfassungsschutzes enttarnt.
Die drei Verbotsanträge gegen die Partei waren ihrerseits wesentlich mit Zitaten von Verfassungsschutzmitarbeitern untermauert worden. Nach Aufkommen weiterer Verdachtsmomente, daß auch in der NPD-Spitze V‑Leute der Innenbehörden tätig seien, und der Weigerung der Antragsteller, vor Gericht in vertraulicher Sitzung die Namen von Vertrauensleuten zu nennen (Bundesinnenminister Schily erklärte öffentlich, es habe keine Steuerung der NPD durch die Verfassungsschutzämter gegeben), begründete das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung, das Verbotsverfahren nicht weiterzuführen, schließlich mit der vorliegenden Gefahr einer „mangelnden Staatsferne“ der NPD.
In der Gesellschaft wurde der „Aufstand der Anständigen“, der auch die Formulierung vom „Kampf gegen rechts“ in der „aktivierten Bürgergesellschaft“ verewigte, vor allem durch die binnen kürzester Zeit organisierten zahlreichen Mahnwachen und Lichterketten sichtbar. Gleichzeitig stellte die rot-grüne Bundesregierung ein Eilprogramm zur umfangreichen finanziellen Förderung von „antifaschistischen“ Initiativen und Nichtregierungsorganisationen auf die Beine.
Der „Aufstand“ trug so wesentlich dazu bei, den „Kampf gegen rechts“ als Teil der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland zu zementieren. Daran änderte sich auch nichts mehr, als im Dezember 2000 ein Marokkaner mit deutschem Paß sowie ein jordanischstämmiger Palästinenser als Täter des Brandanschlags auf die Düsseldorfer Synagoge überführt wurden. Nach ihrer Aussage sei die Tat ein Racheakt für die Tötung eines palästinensischen Kindes durch israelische Soldaten im Gazastreifen gewesen.
Eine unerwartete Wiederbelebung sollte der Begriff im Dezember 2014 erfahren, als wiederum Gerhard Schröder — nun in seiner Funktion als Altbundeskanzler — einen neuen „Aufstand der Anständigen“ forderte. Auslöser war diesmal kein Brandanschlag mit mutmaßlich antisemitischem Hintergrund, sondern das Erstarken der islamisierungskritischen PEGIDA-Bewegung in Dresden. Nichtsdestoweniger sei es geboten, nun wie im Jahr 2000 zu reagieren: “In Berlin haben damals 200000 Menschen gegen Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus protestiert, und selbstverständlich sind Bundespräsident und Bundeskanzler vorneweg marschiert.”
Noch weitere Kreise zog ein „Tagesthemen“-Kommentar der NDR-Journalistin Anja Reschke, die sich im August 2015 gegen den eskalierenden Tonfall bei Internetdiskussionen zur Flüchtlingskrise mit den Worten wandte: „Der letzte Aufstand der Anständigen ist 15 Jahre her. Ich glaube, es ist mal wieder Zeit.“ Die Formulierung hat sich seit 2000 so zum „Trigger“ für die Mobilisierung des gesamtgesellschaftlichen Empörungspotentials entwickelt.
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Literatur:
- Lars Flemming: Das NPD-Verbotsverfahren. Vom „Aufstand der Anständigen“ zum „Aufstand der Unfähigen“, Baden-Baden 2005
- Institut für Staatspolitik (Hrsg.): Der Aufstand der Anständigen. Hintergründe und Erklärungsansätze, Berlin 2001