Kojéve, Alexandre, Philosoph, 1902–1968

Alexan­dre Kojève, geboren am 28. April 1902 in Moskau, kam als rus­sis­ch­er Immi­grant im Jahr 1920 nach Deutsch­land. Er studierte in Berlin und Hei­del­berg europäis­che und fer­nöstliche Philoso­phie. Bei Karl Jaspers wurde er im Jahr 1931 mit ein­er Unter­suchung über den rus­sis­chen Reli­gion­sphilosophen Wladimir Solov­jew pro­moviert. 1933 bis 1939 hielt er am Col­lège de France den leg­endären Vor­lesungszyk­lus über Hegels Phänom­e­nolo­gie des Geistes, der ihn berühmt machen sollte. Er über­nahm diese Vor­lesungstätigkeit von dem Wis­senschaft­sphilosophen Alexan­dre Koyré, der zunächst über Hegels Reli­gion­sphiloso­phie gelehrt hat­te.

Der Kairos für diese Vor­lesun­gen war einzi­gar­tig: Hegels früh­es Hauptwerk war sein­erzeit nicht ins Franzö­sis­che über­set­zt und die Ken­nt­nis Hegelschen Geschichts­denkens markierte in ein­er durch math­e­ma­tis­che Demon­stra­tionsid­e­ale, Carte­sian­is­mus und neuerd­ings Neukan­tian­is­mus geprägten philosophis­chen Land­schaft eine unge­heure Zäsur, die im Leben viel­er von Kojèves ein­sti­gen Hör­ern Epoche machen sollte. Darunter waren Ray­mond Aron, Georges Bataille, Pierre Klos­sowk­si, Jacques Lacan, Mau­rice Mer­leau-Pon­ty, Ray­mond Que­neau und der spätere maßge­bliche franzö­sis­che Hegel-Forsch­er Eric Weil. Que­neau edierte 1947 die Nach­schriften unter dem Titel Intro­duc­tion à la lec­ture de Hegel (die deutsche, gekürzte Ver­sion Hegel. Eine Verge­gen­wär­ti­gung seines Denkens erschien in ein­er Über­set­zung von Iring Fetsch­ers).

Es ist unverkennbar, daß Kojève Hegel in ein­er apoka­lyp­tis­chen, zugle­ich von Hei­deg­gers Exis­ten­z­denken inspiri­erten Blick­rich­tung liest. Zen­trum sein­er Deu­tung ist das Herr-Knecht-Kapi­tel, also Hegels Dialek­tik des Kampfes um Anerken­nung. In der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und dem Ver­stand bezieht sich der Geist pas­siv betra­ch­t­end auf seinen Gegen­stand selb­st. Diese Bewußt­seins­for­men gehen damit dem Selb­st­be­wußt­sein voraus. Auch (ani­malis­che) Begierde, die sich darauf richtet, Gegen­stände in ihre Ver­fü­gung zu brin­gen, führt nicht zu dem Erwachen von Selb­st­be­wusst­sein. Dies geschieht erst, wo sich die eigene Begierde auf eine andere Begierde richtet – ein nicht Seien­des – und sich an ihr bricht. Damit aber ist, wie Kojève zeigt, zugle­ich der Über­gang in Geschichts- und Machtver­hält­nisse ver­bun­den. Der Kampf um Anerken­nung ist Kampf auf Leben und Tod. In ihm zeigt sich mithin eine dem Ver­hält­nis von Fre­und und Feind im Sinne Carl Schmitts ver­wandte Struk­tur. Wenn der Kampf mit dem Tod bei­der Pro­tag­o­nis­ten endet, so bleibt die Anerken­nung aus, eben­so, wenn ein­er der Pro­tag­o­nis­ten zurück­bleibt. Denn Anerken­nung kann nur von einem eigen­ständi­gen, lebendi­gen Anderen aus­ge­hen. Es bleibt die Möglichkeit der Unter­w­er­fung – der Situ­ierung des asym­metrischen Ver­hält­niss­es von Herr und Knecht. Das unter­jochte Selb­st­be­wußt­sein ist eo ipso nicht gle­ichrangig, so daß der Herr am Knecht nicht er selb­st wer­den kann. Er reduziert sich auf den Genuss der Welt. Um so größer wird seine Abhängigkeit vom Knecht, der damit zum Selb­st­be­wußt­sein gelangt und sich gegen seinen Her­rn richt­en kann.

Dies ist für Kojève die geistige Grund­si­t­u­a­tion der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion, deren Idee, eine Gesellschaft freier, einan­der wech­sel­seit­ig anerken­nen­der Bürg­er, zugle­ich das Ende der Geschichte beze­ich­net, aber durch Napoleon real­isiert und voll­streckt wurde. Mit Napoleon, so Kojève, tritt die Welt in einen nach­his­torischen, welt­staatlichen Zus­tand ein. Die großen ide­ol­o­gis­chen Kämpfe des 20. Jahrhun­derts sieht er nicht nur in dem Stre­it zwis­chen Links- und Recht­shegelian­ern vorgeze­ich­net. Sie sind überdies Nach­beben dieses Endes, wen­ngle­ich Kojève in der Zeit der großen Säu­berun­gen kurzzeit­ig Stal­in den welth­is­torischen Rang hat­te zuerken­nen wollen, den Hegel in Napoleon sah. Mithin ist auch Fran­cis Fukuya­mas These vom „Ende der Geschichte“, for­muliert nach dem Ende der Ost-West-Auseinan­der­set­zung, nichts anderes als eine arbi­trär lib­erale Real­isierung der Kojèveschen Hegel-Inter­pre­ta­tion.

Offen­sichtlich ist diese Hegel-Deu­tung eben­so ein­flußre­ich wie verkürzend: wed­er die Tek­tonik des Objek­tiv­en Geistes (Recht-Moral­ität-Sit­tlichkeit mit dem Staat als Schlußpunkt) noch erst recht der absolute Geist spie­len darin eine maßge­bliche Rolle. Kojève untern­immt es vielmehr, mit Hegel die Sit­u­a­tion des 20. Jahrhun­derts zu deuten.

Mit der Geschichte endet für Kojève auch die eigen­ständi­ge Philoso­phie, die Möglichkeit der Rede, die neues sagt. Man tritt, ähn­lich wie in Gehlens Diag­nose, in einen posthis­torischen Zus­tand ein – und es bleiben nurmehr zwei Arten von Sno­bis­mus, der des ani­malis­chen „amer­i­can way of life“ und der elitäre des Selb­stopfers im Harakiri der Samu­rai. Kojève fol­gte dieser Diag­nose auch in sein­er Exis­tenz: Er zog sich aus der Philoso­phie zurück und wirk­te bis zu seinem Tod als hochrangiger Ver­wal­tungs­beamter des franzö­sis­chen Wirtschafts- und Finanzmin­is­teri­ums für die OECD.

Bere­its 1951 hat­te ihm Ray­mond Que­neau in dem Schlüs­sel­ro­man Der Son­ntag des Lebens ein Denkmal geset­zt. Das Kojèvesche Alter Ego denkt „im all­ge­meinen an Nichts, wenn aber doch am lieb­sten an die Schlacht von Jena“.

Nachge­lassene Arbeit­en, darunter ein dreibändi­ger Großes­say Essai d’une his­toire raison­née de la philoso­phie païenne (1966–1974) und eine Kant-Mono­gra­phie sind nur Rah­mungen dieser zen­tralen, zugle­ich exis­ten­tiell beglaubigten Philoso­phie. Von ihr legte Kojève ein Jahr vor seinem Tode noch ein­mal eine provozierende Probe ab, indem er im Juni 1967 unmit­tel­bar vor Her­bert Mar­cus­es bejubel­tem Auftritt an der FU Berlin einen Vor­trag mit dem unver­fänglich akademis­chen Titel „Was ist Dialek­tik? Die Struk­tur der Rede“ hielt und darin die Grundthese vom Ende der Geschichte wieder­holte. Eher noch schla­gen­der ist es, daß Kojève im Fokus der Paris­er Maiun­ruhen am 4. Juni 1968 in Brüs­sel starb, als die These ein­er unverän­der­bar kristallisierten Geschichte noch ein­mal durch Prax­is wider­legt wer­den sollte, fak­tisch indes nur bestätigt wurde.

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Zitat:

Die Geschichte wird also zu Ende sein, wenn der Men­sch voll befriedigt ist durch die Tat­sache, daß er ein Bürg­er ist, der von einem homo­ge­nen Welt­staat oder, wenn man so will, von ein­er die ganze Men­schheit umfassenden klassen­losen Gesellschaft anerkan­nt wird.

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Schriften:

  • Intro­duc­tion à la lec­ture de Hegel, Paris 1947
  • Essai d’une his­toire raison­née de la philoso­phie païenne. 3 Bde, Paris 1966, 1972, 1973
  • Kant, Paris 1973
  • Le con­cept, le temps et le dis­cours, Paris 1990
  • Esquisse d’une phénoménolo­gie du droit (1943), Paris 1981
  • L’athéisme, Paris 1998
  • La notion de l’autorité (1942), Paris 2004
  • Über­lebens­for­men, Berlin 2007

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Lit­er­atur:

  • Dominique Auf­fret: Alexan­dre Kojève, Paris 1990
  • Vin­cent Descombes: Das Selbe und das Andere. Fün­fundzwanzig Jahre Philoso­phie in Frankre­ich 1933–1978, Frank­furt a.M. 1987
  • Gün­ther Rösch: Philoso­phie und Selb­st­beschrei­bung: Kojève, Hei­deg­ger, Berlin 2010
  • Ulrich J. Schnei­der: Der franzö­sis­che Hegel, Berlin 2007