Annaberg — Oberschlesien

Auch wenn der Annaberg aus dem bun­des­deutschen Gedächt­nis weit­ge­hend gelöscht ist, hat­te dieses Stück umstrit­ten­er Erde einst deutsche und pol­nis­che Herzen heiß ent­flammt. Dabei spielte sich die Geschichte auf und um diesen in ländlich­er Umge­bung gele­ge­nen Insel­berg zunächst betont fried­fer­tig ab.

Der Sankt Annaberg (poln. Góra Swi­etej Anny) liegt ober­halb der gle­ich­nami­gen Ortschaft auf dem Gebi­et der Gemeinde Leschnitz. Im 15. Jahrhun­dert wurde auf dem Annaberg eine Kirche errichtet, die, beson­ders nach­dem man dort die Reliquien der heili­gen Anna aufge­bahrt hat­te, bald Ziel viel­er Wall­fahrten wurde. 1657 bis 1659 baute man ein Franziskan­erk­loster aus Holz, das in den Jahren 1733 bis 1759 von einem gemauerten, noch heute existieren­den Bau erset­zt wurde. Zusam­men mit der Kirche ent­stand eine barock­go­tis­che Anlage. Von da an war der St. Annaberg das Zen­trum des religiösen Lebens in Ober­schle­sien.

Das Gebi­et Ober­schle­siens war deutsch (eine deutsche Min­der­heit lebt dort immer noch) und pol­nisch besiedelt. Es gehörte nacheinan­der zur pol­nis­chen, hab­s­bur­gis­chen und preußis­chen Kro­ne und wurde 1871 in das neuer­standene Deutsche Reich eingegliedert. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Wieder­errich­tung eines pol­nis­chen Staates geri­et Ober­schle­sien zum Zankapfel zwis­chen Polen und Deutsch­land. Bevor es im März 1921 zu ein­er Volksab­stim­mung über die staatliche Zuge­hörigkeit der Region kam, brachen 1919 und 1920 zwei, von pol­nis­ch­er Seite aus­gelöste, Auf­stände aus. Der erste Auf­s­tand kon­nte von der Schwarzen Reich­swehr niedergeschla­gen wer­den, der zweite wurde auf Drän­gen ein­er inter­na­tionalen Kom­mis­sion been­det. Die Lage beruhigte sich jedoch auch nicht nach dem Plebisz­it vom 20. März 1921, bei dem 59,6 Prozent der Wäh­ler für ein Verbleiben Ober­schle­siens beim Deutschen Reich votierten und lediglich 40,4 Prozent für einen Anschluß an Polen. In der Gemeinde Annaberg stimmten sog­ar knapp 82 Prozent für den Verbleib im Deutschen Reich.

Die Span­nun­gen zwis­chen bei­den Volks­grup­pen mün­de­ten schließlich in einen drit­ten Auf­s­tand, der in der Nacht vom zweit­en auf den drit­ten Mai 1921 aus­brach, wobei pol­nis­che Freis­chär­ler den strate­gisch wichti­gen Annaberg beset­zten. Deutsche Freiko­rps schlossen sich daraufhin im Selb­stschutz Ober­schle­sien (SSOS) zusam­men und rüsteten zur Gegen­wehr. Bere­its am 21. Mai gelang es ihnen, den Annaberg zu erobern, während die Kämpfe im Umland des Berges noch bis zum 27. Mai dauerten. Offiziell endete der Auf­s­tand am 5. Juli 1921, als auf Druck der Alli­ierten ein Waf­fen­still­standsabkom­men unterze­ich­net wurde.

Trotz der sowohl mil­itärischen als auch abstim­mungsmäßi­gen Nieder­lage Polens kon­nte der 1922 in Genf Unterze­ich­nete Teilungsvorschlag für Ober­schle­sien (2/3 Deutsch­land, 1/3 Polen) als pol­nis­ch­er Erfolg ver­bucht wer­den. Der flächen- und bevölkerungsmäßig größere Teil verblieb zwar beim Deutschen Reich, das wichtigere ober­schle­sis­che Indus­triege­bi­et ging jedoch an Polen. — In gewiss­er Weise ein Menetekel: Obgle­ich Polen im 20. Jahrhun­dert sämtliche mil­itärischen Kon­flik­te mit Deutsch­land ver­loren hat­te, erfüllte sich let­z­tendlich sein Traum vom »Leben­sraum im West­en« weit­ge­hend.

Die Kämpfe der Freiko­rps um den Annaberg — ein Ein­greifen der Reich­swehr wurde dem Deutschen Reich von alli­iert­er Seite unter­sagt, während die pol­nis­chen Freis­chär­ler von franzö­sis­chen Trup­pen unter­stützt wur­den — fan­den auch lit­er­arisch ihren Nieder­schlag. Beson­ders Kurt Eggers, der als fün­fzehn­jähriger Schüler vom Gym­na­si­um wegge­laufen war, um in einem Freiko­rps an dem Sturm auf den Annaberg teilzunehmen, hat dieses Ereig­nis von sein­er Warte aus mehrmals ver­ar­beit­et: In dem Hör­spiel Annaberg (1933), in dem Roman Berg der Rebellen (1937) und in dem Schaus­piel Das Kreuz der Frei­heit (1937).

In den Jahren 1936 bis 1938 errichtete der Architekt Robert Tis­chler im Auf­trag des Volks­bun­des Deutsche Kriegs­gräber­für­sorge ein Freiko­rps-Ehren­mal auf dem Annaberg. Tis­chler galt als ein Spezial­ist für die Erbau­ung von Kriegerdenkmälern und Sol­daten­fried­höfen. Fast ein Leben lang arbeit­ete er für den Volks­bund, in dessen Auf­trag er u.a. die Ehren­male und Sol­daten­fried­höfe in Liny-devant-Dun (’Ver­dun) in Frankre­ich, Walden­burg in Schle­sien und Bito­la im dama­li­gen Jugoslaw­ien (heute Maze­donien) errichtete. Das Ehren­mal auf dem Annaberg darf als Tis­chlers reif­ste Schöp­fung ange­se­hen wer­den. Seine For­men­sprache, die ver­wen­de­ten Mate­ri­alien sowie die Lage auf dem Berg bilde­ten eine überzeu­gende Ein­heit. Das fast kreis­runde Bauw­erk erhob sich, wei­thin sicht­bar, genau dort, wo der Berg infolge eines ehe­ma­li­gen Stein­bruch­es fast senkrecht in die Tiefe stürzt. Die Toten­burg wuchs förm­lich aus der Felsen­wand her­vor und bildete ihren krö­nen­den Abschluß. Zwölf Pilaster, auf denen sich Feuer­schalen befan­den, ver­stärk­ten die Außen­mauern. Der Zugang zum Ehren­mal erfol­gte von der Bergin­nen­seite. Durch eine wuchtige Met­alltür führte ein Gang in eine mit far­bigen Keramik­mo­saiken gestal­tete Kup­pel­halle, die von einem Ober­licht erhellt wurde. Rings um die Kup­pel­halle waren die 51 Särge der bei der Erstür­mung des Anna-bergs gefal­l­enen Freiko­rpsmän­ner aufge­bahrt. Zu Füßen von Berg und Toten­burg hat­te Franz Böh­mer in Zusam­me­nar­beit mit Georg Pet­rich von 1934 bis 1938 einen noch heute erhal­te­nen Thing­platz errichtet, der 7000 Sitz- und 20000 Steh­plätze umfaßt und mit den Nebe­nan­la­gen bis zu 50000 Per­so­n­en aufnehmen kon­nte. In unmit­tel­bar­er Nähe dazu baut­en Böh­mer und Pet­rich noch eine Jugend­her­berge, die 1937 von Bal­dur von Schirach eingewei­ht wurde.

1945, unmit­tel­bar nach der gewalt­samen Vertrei­bung der Deutschen, sprengten pol­nis­che Sol­dat­en das Freiko­rps-Ehren­mal mit­samt den Sarkopha­gen in die Luft — kein pietätvoller Akt, zumal wenn man bedenkt, daß der St. Annaberg ein »heiliger Berg« ist und als Wall­fahrt­sort dient.

1946 wurde ein Wet­tbe­werb für ein neues, jet­zt pol­nis­ches Denkmal aus­geschrieben. Der pol­nis­che Bild­hauer Xaw­ery Dunikows­ki gewann den Wet­tbe­werb. Das nach seinen Plä­nen errichtete Denkmal wurde 1955 von dem dama­li­gen pol­nis­chen Staat­sratsvor­sitzen­den Alek­sander Zawadz­ki eingewei­ht. An der Außen­seite des Denkmals sind Szenen einge­meißelt, in denen die schle­sis­che Geschichte sehr verz­er­rt widerge­spiegelt wird. So wer­den die ein­sti­gen deutschen Bewohn­er auss­chließlich als Aggres­soren gegen die »Schle­si­er« dargestellt, die hier nur als Polen zu ver­ste­hen sind. Eben­so ver­quer wie die darauf wiedergegebene Geschichte ist auch das Bauw­erk selb­st. Da dieses pol­nis­che Denkmal sich sowohl von sein­er Lage als auch von sein­er For­mge­bung her deut­lich von dem äußerst gelun­genen deutschen Vorgänger­bau unter­schei­den sollte, kon­nte es eigentlich nur mißlin­gen. Es ent­stand ein selt­sam ver­rutschter Bau, der mit der »Architek­tur des Berges« kein­er­lei Ein­heit bildet. Das Bauw­erk selb­st, vier mas­sige Pfeil­er, die mit einem Archi­trav ver­bun­den sind, stellt eine Art Tri­umph­bo­gen dar, der von sein­er For­mge­bung jedoch wenig überzeugt.

Am Weg vom Annaberg nach Leschnitz liegt das »Muse­um der Schle­sis­chen Auf­stände«. Es zeigt in ein­er Dauer­ausstel­lung ein Panora­ma der Auf­stände und behan­delt die Geschichte von Leschnitz und des St. Annabergs.

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Lit­er­atur:

  • Camil­ius Bol­czyk: St. Annaberg. Geschichte des berühmten Wall­fahrt­sortes im Herzen Ober­schle­siens, Bres­lau 1937
  • Mor­timer G. David­son: Kun­st in Deutsch­land 1933–1945. Bd. 3 Architek­tur, Tübin­gen 1995, Abb. 57, Abb. 890–904, S. 473, S. 571–572
  • Erich Mende: Der Annaberg und das deutsch-pol­nis­che Ver­hält­nis, Bonn 1991
  • Kai Struwe (Hrsg.): Ober­schle­sien nach dem Ersten Weltkrieg. Stu­di­en zu einem nationalen Kon­flikt und sein­er Erin­nerung, Mar­burg 2003