Berlin – Stalinallee

Am 3. Feb­ru­ar 1952, genau sieben Jahre nach dem schw­er­sten Bombe­nan­griff auf Berlin, legte der dama­lige DDR-Min­is­ter­präsi­dent Otto Grote­wohl in Berlin-Friedrichshain – dieser tra­di­tionelle Arbeit­er­bezirk war beson­ders schw­er getrof­fen wor­den – den Grund­stein für das Pro­jekt Stali­nallee. Von Anfang an war der Bau dieser Straße mit der großen Poli­tik ver­bun­den.

Das äußerte sich sowohl in ihrer Benen­nung nach dem sow­jetis­chen Dik­ta­tor als auch in dem Datum der Grund­stein­le­gung; denn anders als im west­deutschen Rumpf­s­taat durfte der mörderische Bombenkrieg der »anglo-amerikanis­chen Kul­tur­bar­baren« gegen die deutsche Zivil­bevölkerung dur­chaus in aller Deut­lichkeit so benan­nt wer­den – im Gegen­satz zu den von der Roten Armee began­genen Kriegs­greueln, ein­schließlich der Vertrei­bungsver­brechen, über die man den »eis­er­nen Vorhang« des Schweigens legte. Das Haupt­poli­tikum der als Pracht­boule­vard gebaut­en Stali­nallee bestand aber in der Ambi­tion, die Über­legen­heit des marx­is­tisch-lenin­is­tis­chen Gesellschaftsmod­ells gegenüber dem west­lich-kap­i­tal­is­tis­chen zu demon­stri­eren.

Nach »sozial­is­tis­chen Prinzip­i­en« und in deut­lich­er Zurück­weisung amerikanis­ch­er Ein­flüsse und west­lich­er Pla­nungskonzep­tio­nen, sowie mit der Ver­heißung, daß bald alle Arbeit­er in der­ar­ti­gen
Pracht­straßen leben soll­ten, wurde 1952 mit dem Bau begonnen. Bere­its am 21. Dezem­ber 1948 – dem 70. Geburt­stag Stal­ins – hat­te man die Große Frank­furter Straße und die Frank­furter Allee in Stali­nallee umbe­nan­nt. Anläßlich der III. Welt­fest­spiele der Jugend und Stu­den­ten in Berlin 1951 wurde dort überdies ein bronzenes Stalin­denkmal aufgestellt. Auf­bauend auf dem neuen Boden­recht der DDR, das pri­vate Inter­essen auss­chal­tete, fand ein Wet­tbe­werb für die erste Teil­be­bau­ung, vom Straus­berg­er Platz bis zum Frank­furter Tor, statt, der am 29. August 1951 entsch­ieden wurde. Die meis­ten ein­gere­icht­en Entwürfe wur­den wegen ihrer sied­lungsar­ti­gen Konzep­tion abgelehnt. Preise erhiel­ten ins­ge­samt fünf Architek­tenkollek­tive, deren Arbeit­en man in ein­er unter der Leitung von Her­mann Hensel­mann erstell­ten Studie zusam­men­fügte. Diese bildete schließlich die Grund­lage des endgülti­gen Bebau­ungs­planes vom 12. Sep­tem­ber 1951.

Auf ein­er Länge von 1 850 Metern und ein­er Bre­ite von 90 Metern ent­stand von 1952 bis 1958 ein repräsen­ta­tiv­er, reich­lich begrün­ter Straßen­zug mit über 3 000 Woh­nun­gen und über 100 Verkauf­s­lä­den sowie mit Gast­stät­ten, Ver­wal­tungs­büros und Ein­rich­tun­gen des Gesund­heitswe­sens. Die sieben- bis zehngeschos­si­gen Häuser gliedern sich durch vor- und zurück­sprin­gende Baukör­per­grup­pen. An seinen Enden – näm­lich am Straus­berg­er Platz und am Frank­furter Tor – wird der Straßen­zug von je zwei Hochhaus­paaren einge­faßt. Die Woh­nun­gen in der Stali­nallee waren für das Nachkriegs­ber­lin außergewöhn­lich lux­u­riös: Nicht nur daß sie groß und hell waren, sie ver­fügten zudem über Fern­heizung, Warmwass­er, Ein­bauschränke, gefli­este Bäder und Müllschluck­er. Etwa zwei Drit­tel aller Woh­nun­gen gin­gen an Bauar­beit­er, Auf­bauhelfer und Trüm­mer­frauen, der Rest an Angestellte und Akademik­er.

Aber nicht nur Luxus­woh­nun­gen für Arbeit­er stell­ten ein Poli­tikum dar. Das Poli­tis­che war – wie so häu­fig – auch eine Stil­frage. Allein daß die Stali­nallee als ger­ade Achse mit geschlossen­er Bebau­ung errichtet wurde, hebt sie deut­lich von der siegre­ichen Nachkriegsmod­erne im West­en ab. Das wird überdeut­lich, wenn man sie mit dem »Schaufen­ster des West­ens«, dem zur Inter­na­tionalen Bauausstel­lung 1957 – der »Inter­bau« – fer­tiggestell­ten Hansavier­tel ver­gle­icht. Hier ver­wirk­licht­en namhafte Architek­ten der Mod­erne, so Wal­ter Gropius, Max Taut, Alvar Aal­to oder Oscar Niemey­er im zer­störten, innen­stadt­na­hen Hansavier­tel das Konzept eines lock­er gegliederten, durch­grün­ten Woh­nungs­baus, in dem die Prinzip­i­en des klas­sis­chen Städte­baus aufge­hoben wur­den. So standen sich »Wohnen auf der grü­nen Wiese« im West­teil der Stadt und repräsen­ta­tive Großs­tad­tachse im Osten schroff gegenüber.

Doch nicht nur stadt­planer­isch ver­trat­en Ost und West unter­schiedliche Prinzip­i­en. Während sich die Mod­erne von tradierten Orna­ment­for­men ver­ab­schiedet hat­te, griff man im Osten bei der Haus­gestal­tung auf über­lieferte Schmuck­for­men zurück. So zeigen die Häuser der Stali­nallee bei der Gliederung ihrer Baukör­p­er, der Anord­nung der Fen­ster, bei der Gestal­tung ihrer von Säulen getra­ge­nen Ein- und Durchgänge dur­chaus klas­sizis­tis­che Ein­flüsse. Bei einzel­nen Schmuck­for­men wurde auch direkt auf die Berlin­er Bau­tra­di­tion des 18. und frühen 19. Jahrhun­derts zurück­ge­grif­f­en. Der Berlin­bezug macht dabei deut­lich, daß die Architek­tur der Stali­nallee keineswegs als Vor­lage für einen DDR-Ein­heitsstil gedacht war, und in der Tat weist die DDR-Architek­tur dieser Zeit lokale Fär­bun­gen auf: So wurde z. B. in Neubran­den­burg die nord­deutsche Renais­sance beschworen, in Ros­tock die Back­stein­gotik und in Dres­den, am Alt­markt, belebte man das barocke Erbe wieder. Die DDR-Architek­tur sollte die wertvollen Bau­tra­di­tio­nen der Ver­gan­gen­heit auf­greifen und daraus eine Baukun­st entwick­eln, die vom Volk ver­standen und angenom­men wird. Der »Inter­na­tionale Stil« der Mod­erne wurde im Gegen­satz dazu als »for­mal­is­tisch«, »kos­mopoli­tisch« und »amerikanisch« gebrand­markt. Unmit­tel­bar vor Baube­ginn der Stali­nallee führte Wal­ter Ulbricht – der anson­sten recht rabi­at Kirchen und Schlöss­er in die Luft spren­gen ließ – auf dem III. Parteitag der SED zu diesem The­ma aus: »Der grund­sät­zliche Fehler dieser (west­lichen und mod­er­nen) Architek­ten beste­ht darin, daß sie nicht an die Gliederung und Architek­tur Berlins anknüpfen, son­dern in ihrer kos­mopoli­tis­chen Phan­tasie glauben, daß man in Berlin Häuser bauen kann, die eben­sogut in die südafrikanis­che Land­schaft passen.«

Ten­den­ziell weist die Architek­tur der Stali­nallee eine größere Nähe zu den Pla­nun­gen Albert Speers für Berlin auf als zu denen der Mod­erne. Ein Tatbe­stand, der aber geflissentlich ver­schwiegen wurde. Der nicht zulet­zt von der »Schuhkar­ton­frak­tion« der Mod­erne vorge­brachte Ein­wand, bei der Architek­tur der Stal­inära han­dle es sich um einen »Zucker­bäck­er­stil«, läßt sich allen­falls auf einige spek­takuläre Baut­en inner­halb des Ost­block­es anwen­den – auf die in der DDR ent­standene Architek­tur trifft dies aber nicht zu. So erin­nert kein in der Stali­nallee errichtetes Bauw­erk ern­sthaft an die Kreatio­nen eines »Zucker­bäck­ers«. Doch als 1958 der erste Abschnitt der Stali­nallee fer­tiggestellt war, neigte sich der ganz große Sys­temge­gen­satz in der Architek­tur ohne­hin seinem Ende zu, denn es war deut­lich gewor­den, daß in ein­er per­ma­nent schwächel­nden Wirtschaft wie der­jeni­gen des »real existieren­den Sozial­is­mus« keine aufwendi­ge Baukun­st als Massen­stan­dard real­isier­bar war. Spätestens zu diesem Zeit­punkt war der Traum von den Arbeit­er­palästen aus­geträumt, und die Devise hieß jet­zt schneller und bil­liger, möglichst ver­bun­den mit ein­er weit­ge­hen­den Indus­tri­al­isierung des Bausek­tors. Das führte zwangsläu­fig zur »Plat­te«. Mit dem Plat­ten­bau ver­lor die Architek­tur aber nicht nur ihren kün­st­lerischen Auf­trag, son­dern wurde zugle­ich radikal entortet. Vor­bei war es mit dem Anspruch, eine gen­uin deutsche, überdies region­al aufge­fächerte Architek­tur zu schaf­fen.

Als von 1959 bis 1965 der zweite Abschnitt der Stali­nallee gebaut wurde – vom Straus­berg­er Platz bis zum Alexan­der­platz –, geschah dies bere­its in Plat­ten­bauweise und in der Sprache der Mod­erne. In diesem Teil der Allee (700 Meter lang, 125 Meter bre­it) befand sich bis zum Ende der DDR auch der Stan­dort für die Funk­tionärstribü­nen zu den alljährlichen zen­tralen Großdemon­stra­tio­nen. 1961 wurde die Allee überdies in Karl-Marx-Allee umbe­nan­nt, wie sie heute auch noch heißt. Gle­ichzeit­ig wurde die Frank­furter Allee wieder unter ihrem alten Namen abge­tren­nt. Mit der Namen­sän­derung ver­schwand in ein­er Nacht- und Nebe­lak­tion auch das Stalin­denkmal.

Unge­wollt und für die DDR-Machthaber äußerst unan­genehm, hat sich die Stali­nallee noch unter einem anderen Aspekt mit der großen Poli­tik ver­bun­den – näm­lich mit dem Volk­sauf­s­tand vom 17. Juni 1953. Genaugenom­men begann dieser bere­its einen Tag zuvor, am 16. Juni. An diesem Tag hat­ten die Arbeit­er an der Stali­nallee ihre Arbeit niedergelegt und protestierten, weil ihnen die Regierung den Lohn gekürzt und höhere Arbeit­snor­men aufgezwun­gen hat­te. Tags darauf weit­eten sich die Streiks auf die ganze DDR aus.

Nach der Wiedervere­ini­gung wur­den die Prunk­baut­en der ehe­ma­li­gen Stali­nallee an unter­schiedliche Inve­storen verkauft und meist aufwendig saniert. Die Woh­nun­gen erfreuen sich großer Beliebtheit – wegen ihrer Architek­tur auch bei vie­len Kon­ser­v­a­tiv­en. Ein Para­dox? Keineswegs, da diese Baut­en, ähn­lich den anderen mit­teldeutschen dieser Zeit, Tra­di­tio­nen neu belebten und region­al verortet sind, greifen sie gen­uin rechte Werte auf. Der US-amerikanis­che Starar­chitekt Philip John­son nan­nte die Stali­nallee »das Schön­ste«, was es über­haupt in Berlin gebe: Was hätte er wohl gesagt, wenn Albert Speer seine Pläne für diese Stadt hätte ver­wirk­lichen kön­nen? Doch es kam bekan­ntlich anders, was für Berlin zugle­ich bedeutet: Viel banale Nachkriegsmod­erne und einige Aus­nah­men – wie z. B. die Stali­nallee.

– — –

Lit­er­atur:

  • Tilo Köh­ler: Unser die Straße – Unser der Sieg. Die Stali­nallee, Berlin 1993.
  • Thomas Michael Krüger: Architek­tur­führer Karl-Marx-Allee Berlin, Berlin 2008.
  • Her­bert Nicolaus/Alexander Obeth: Die Stali­nallee. Geschichte ein­er deutschen Straße. Berlin 1997.
  • Andreas Schätzk­er: Zwis­chen Bauhaus und Stali­nallee. Architek­tur­diskus­sion im östlichen Deutsch­land 1945–1955, Braun­schweig 1991