Am 4. Juli 1954 wurde die deutsche Elf im Berner Wankdorfstadion zum ersten Mal Fußballweltmeister. Sportreporter Herbert Zimmermann sprach bereits vor Spielbeginn von einem „Wunder“, daß Deutschland überhaupt das Finale erreicht hatte. Der heute gängige Topos „Wunder von Bern“ entstand durch die Sportzeitschrift Kicker wenige Tage nach dem Finalsieg. Rein sportlich betrachtet ist der Begriff „Wunder“ für den WM-Sieg sicherlich gerechtfertigt. Finalgegner Ungarn um Ausnahmespieler Ferenc Puskás hatte in den sechs Jahren vor dem Weltmeisterschaftsfinale in 48 Spielen nicht mehr verloren und 1952 olympisches Gold gewonnen. Das Vorrundenspiel gegen die BRD entschieden die Ungarn ebenfalls deutlich mit 8:3 für sich.
Das Finale verlief zunächst wie gewohnt. Bereits nach 9 Minuten lag die hochfavorisierte ungarische Elf an jenem Tag in Bern mit 2:0 in Führung. Die deutsche Mannschaft konnte das Ruder aber herumreißen und gewann 3:2. Der starke Regen, der der technisch unterlegenen deutschen Truppe half, und die neuen austauschbaren Stollen von Adolf „Adi“ Dassler trugen zum Überraschungserfolg bei. Die anschließende Heimkehr der Weltmeister wurde zu einem wahren Triumphzug in Westdeutschland.
Auch in der DDR, in der die SED-Führung fest vom Sieg des sozialistischen Bruders Ungarn ausging, wurde das Endspiel intensiv verfolgt. Fernsehen und Rundfunk übertrugen das Spiel, wobei die Bevölkerung überwiegend zur Mannschaft der BRD hielt. Nach dem Schlußpfiff kam es auch in der DDR zu spontanen Siegesfeiern.
In der Rückschau wird das Ereignis sogar „in gewisser Hinsicht [als] das Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland“ (Joachim Fest) bezeichnet. Fest kann hier jedoch nicht zugestimmt werden, vor allem wenn man sich die Rezeption der WM 1954 in den folgenden Jahrzehnten näher ansieht. Bereits am zweiten Tag nach dem Finale verschwand der Fußballerfolg von den deutschen Titelseiten. Am 10. Juli kam zwar der Dokumentarfilm „Fußball Weltmeisterschaft 1954“ in die Kinos, der gerade für die Radiohörer, die die Tore noch nicht gesehen hatten, von großem Interesse war. Doch insgesamt ließ das Interesse an den „Helden von Bern“ schnell nach. Die Filmrollen des Endspiels wurden nicht einmal archiviert, sodaß heute kein vollständiger Film der 90 Minuten mehr vorliegt.
1964 wurde zum 10jährigen Jubiläum kaum über den Erfolg von Bern berichtet, was bis zur Heim-WM 1974 auch so blieb. Erst aus diesem Anlaß geriet der bis dahin einzige deutsche WM-Titel in den Blick. Nachdem die westdeutsche Mannschaft den Pokal erneut gewonnen hatte, kam es sogar zur Prognose, daß die Sieger von 1974 um Franz Beckenbauer die Gewinner von 1954 in der öffentlichen Wahrnehmung ablösen würden. Tatsächlich trat langfristig gesehen das genaue Gegenteil ein. Im Rahmen von Trainer Sepp Herbergers 80. Geburtstag und seinem kurz darauf folgenden Tod 1977 schrieben die Zeitungen wieder viel über 1954. Die FAZ behauptete, daß der WM-Sieg zum „Symbol des nach dem Krieg wiedergewonnen nationalen Selbstbewußtsein“ geworden sei und maß dem Ereignis Bedeutung über das Sportliche hinaus zu. In den 1980er Jahren ging das öffentliche Interesse an Bern wieder zurück, erreichte aber ab dem 40jährigen Jubiläum 1994 eine völlig neue Dimension.
Zum einen wurde der Begriff „Wunder von Bern“, bis dahin kaum gebraucht, wohl durch eine ZDF-Dokumentation populär. Zum anderen erschien plötzlich ein Vielzahl von Berichten und Büchern über die WM 1954. Auffällig oft stellten die Artikel einen Zusammenhang zur Geschichte der BRD. Die Süddeutschen Zeitung schrieb zum Beispiel vom symbolischen „Gründungsdatum der alten Bundesrepublik“. Auslöser für diese Euphorie war vermutlich die Wiedervereinigung, die mit dem dritten deutschen WM-Erfolg 1990 in Italien zusammenfiel. Der Sieg von Bern war der ideale historische Bezugspunkt für einen gemeinsamen sportlichen Erfolg, da er in Ost und West gleichermaßen gefeiert worden war. Für 1974 galt dies nicht, da die DDR damals eine eigene Mannschaft ins Rennen schickte, die in der Vorrunde die BRD sogar mit 1:0 schlagen konnte.
Erst ab 1994 wurde verstärkt von einem „Wunder von Bern“ geschrieben und so ein moderner Mythos geschaffen. Es handelt sich folglich um eine „erfundene Tradition“ im Sinne von Eric Hobsbawm, die nach der Wiedervereinigung zur (Fußball)-Identität der Deutschen beitragen sollte. Unabhängig davon stehen die „Helden von Bern“, die ihren Sport für wenig Geld betrieben, auch heute noch für den alten, ehrlichen Fußball.
Es soll nicht unterschlagen werden, dass es mittlerweile auch Kritik am eigentlich positiven Mythos „Wunder von Bern“ gibt. Immer wieder werden im Zusammenhang mit der „Weltmeisterschaft im Schatten Hitlers“ (Franz-Josef Brüggemeier) von medialer Seite, u.a. von correctiv, Dopingvorwürfe gegen die deutsche Elf ins Feld geführt. Diese Anschuldigungen beruhen allerdings auf schwachen Indizien. Außerdem betont fast jeder neuere Bericht über das Finale von 1954, daß die deutsche Mannschaft bei der Siegerehrung aus Gewohnheit die erste Strophe der Nationalhymne sang, obwohl die dritte kurz zuvor für offizielle Veranstaltungen festgelegt wurde. Desweiteren wird die frei gehaltene Rede des DFB-Präsidenten Peter Joseph „Peco“ Bauwens beim Empfang im Münchener Löwenbräukeller („da haben die Jungens es wirklich gezeigt, was ein gesunder Deutscher, der treu zu seinem Land steht, zu leisten vermag“) – wie damals schon vom Spiegel („Kaiser-Wilhelm-Stil“) – scharf angegriffen. Während beispielsweise die FAZ 1954 noch vorsichtig von keiner „rhetorischen Glanzleistung“ schrieb, lautet der Tenor zur Rede mittlerweile fast nur noch „nationalistische Überheblichkeit“ (Bayerischer Rundfunk).
Der Ort des Triumphes, das Wankdorfstadion, existiert heute allerdings nicht mehr. 2001 wurde es abgerissen und vier Jahre später durch das Stade de Suisse ersetzt, das den Anforderungen der UEFA an ein „Elitestadion“ als Austragungsort der Fußballeuropameisterschaft 2008 genügen mußte. Der Abriß erfolgte damit zwei Jahre vor dem Kinostart von Sönke Wortmanns Das Wunder von Bern, der über 3,5 Millionen Menschen in die Kinos lockte. Neben dem Siegtorschützen Helmut Rahn steht vor allem eine Nachkriegsfamilie, deren Vater kurz vor dem Turnier 1954 aus Rußland zurückkommt, im Fokus. Der mehrfach ausgezeichnete Streifen stellt die Probleme des Spätheimkehrers, sich in der Gesellschaft wieder zurecht zu finden, sehr gut dar und kommt dabei größtenteils ohne nervige Vergangenheitsbewältigung aus. Der Film gipfelt natürlich im Finale von Bern, welches ebenfalls als über das Sportliche hinaus bedeutsam interpretiert wird. Zweifellos war 2004 mit zahlreichen Veranstaltungen, Büchern und einer offiziellen Briefmarke der Höhepunkt in der Rezeption des Fußballereignisses. In den folgenden Jahren, die fußballerisch das „Sommermärchen“ 2006 im eigenen Land und den Titelgewinn 2014 in Brasilien brachten, ging das Interesse am Erfolg von 1954 leicht zurück, doch der Mythos des „Wunders“ lebt weiter.
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Literatur:
- Franz-Josef Brüggemeier: Weltmeister im Schatten Hitlers. Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, Essen 2014
- Andreas Luh: Das „Wunder von Bern“ und die kollektive Erinnerung der Deutschen im Wandel der Zeit – zeitgenössisches Erleben, Erinnerungskultur und nationale Identitätsbildung, in: Sport und Gesellschaft 2023, S. 101–134