Strauß, Botho, Schriftsteller, geboren 1944

Sein Geburt­s­jahr 1944 stellt den Schrift­steller, Dra­matik­er und Essay­is­ten Botho Strauß — am 2. Dezem­ber in Naum­burg geboren — in die Kohorte der 68er-Gen­er­a­tion. Der Sohn eines Chemik­ers besuchte im Ruhrge­bi­et und in Hes­sen das Gym­na­si­um. Er studierte einige Semes­ter Sozi­olo­gie, Ger­man­is­tik, The­atergeschichte, brach das Studiem aber ab. Er arbeit­ete bei der Zeitschrift The­ater heute und wirk­te seit 1970 an Peter Steins Schaubühne in Berlin (West).

Das heute leg­endäre The­ater war ursprünglich eben­falls von der 68er-Bewe­gung inspiri­ert. Durch die Mit­sprache der kün­st­lerischen Mitar­beit­er bei der Stück­auswahl und Spielplan­poli­tik sollte eine Alter­na­tive zum herkömm­lichen Stadtthe­ater enste­hen. Poli­tis­che Akzente wur­den mit Enzens­berg­ers Ver­hör von Habana oder mit dem Rev­o­lu­tion­sstück Opti­mistis­che Tragödie von Wse­wolod Wis­chnews­ki geset­zt. Der „Dichter der Gegen-Aufk­lärung“ (Michael Wies­berg) ken­nt das soziale Biotop, die Denkstruk­turen und Funk­tion­sweise des tonangeben­den Kul­turbe­triebs aus intimer Anschau­ung.

Strauß debütierte 1972 mit dem Stück Die Hypochon­der. Das Per­son­al sein­er Dra­men, Romane, tage­buchar­ti­gen Reflex­io­nen und Betra­ch­tun­gen sind Intellek­tuelle, Akademik­er, Kün­stler und Stu­den­ten, die ihre Kom­plexe, Reizbarkeit­en, Gesin­nun­gen ausleben. Selb­st Vis­con­tis Leop­ard-Ver­fil­mung messen sie „an ihrem eige­nen herun­ter­demokratisierten, form­losen Gesellschafts­be­wußt­sein… Dabei spürt man zugle­ich, wie wenig noch an Kraft, Zorn, Rich­tung hin­ter solchen Entwür­fen steckt“. Im Büh­nen­stück Trilo­gie des Wieder­se­hens (1977) wer­den die Fig­uren durch Oxymo­ra beze­ich­net: „Wißbe­gierig gle­ichgültig, erstaunt erschöpft, nach­den­klich dumm.“ Es sind „let­zte Men­schen“.

Mit seinem Angriff auf die „Total­herrschaft der Gegen­wart“ schrieb Strauß die Novalis-Kri­tik am „mod­er­nen Unglauben“ fort. Dessen Anhänger, so der Frühro­man­tik­er, seien unabläs­sig damit beschäftigt, „die Natur, den Erd­bo­den, die men­schlichen See­len und die Wis­senschaften von der Poe­sie zu säu­bern, — jede Spur des Heili­gen zu ver­til­gen, das Andenken an alle erhebende Vor­fälle und Men­schen durch Sarkas­men zu ver­lei­den“ und „die Zuflucht zur Geschichte abzuschnei­den“.

1993 pub­lizierte Strauß im Spiegel den Auf­satz „Anschwellen­der Bock­ge­sang“, in dem er der lib­eralen Gesellschaft eine lebens­ge­fährliche Schwäche in der Begeg­nung mit nichtwest­lichen Völk­ern diag­nos­tizierte: „Es ziehen aber Kon­flik­te her­auf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen… Zwis­chen den Kräften des Herge­bracht­en und denen des ständi­gen Fort­brin­gens, Abservierens und Aus­löschens wird es Krieg geben.“ Der Text wurde kon­tro­vers disku­tiert und von ein­er sich formieren­den intellek­tuellen Neuen Recht­en als Man­i­fest aufge­grif­f­en.

Strauß hat den Fortschritts­gedanken ver­wor­fen, aber nicht sein erwor­benes ana­lytis­ches Besteck. Der Vor­wurf der Mod­erne- und Geist­feindlichkeit, der gegen ihn wegen seines Bezugs auf Mythen vorge­bracht wird, läßt sich leicht mit Adornos und Horkheimers Fest­stel­lung wider­legen, daß der Mythos, gegen den die Aufk­lär­er ange­hen, ja bere­its ein Stück Aufk­lärung darstellt.

Eine mech­a­nisierte Aufk­lärung aber ist „total­itär“, denn je weit­er durch sie „die magis­che Illu­sion entschwindet, um so uner­bit­tlich­er hält Wieder­hol­ung unter dem Titel Geset­zlichkeit den Men­schen in jen­em Kreis­lauf fest, durch dessen Verge­gen­ständlichung im Naturge­setz er sich als freies Sub­jekt gesichert wäh­nt“. Strauß zieht die Kon­se­quenz aus der „Dialek­tik der Aufk­lärung“, wenn er schreibt: „Der Reak­tionär ist eben nicht der Aufhal­ter oder unverbesser­lich­er Rückschrit­tler, zu dem ihn die poli­tis­che Denun­zi­a­tion macht – er schre­it­et im Gegen­teil voran, wenn es darum geht, etwas Vergessenes wieder in die Erin­nerung zu brin­gen.“

Er hat seit­dem keinen der Befunde zurückgenom­men, son­dern sie ver­schärft. Zum 11. Sep­tem­ber 2001 schrieb er: “Die Blind­heit der Glauben­skrieger und die meta­ph­ysis­che Blind­heit der west­lichen Intel­li­genz scheinen einan­der auf ver­häng­nisvolle Weise zu bedin­gen.” 2006 reflek­tierte er im Auf­satz „Der Kon­flikt“ über eine Zukun­ft, in der die christlichen Autochtho­nen bzw. ihre säku­lar­isierten Nach­fahren in Europa nur noch eine Min­der­heit bilde­ten, was von den Intellek­tuellen in ihrer „aufrichti­gen Ver­wirrung“ gar nicht begrif­f­en würde. Die „Par­al­lelge­sellschaften“ kon­sti­tu­ierten in Wahrheit eine „Vor­bere­itungs­ge­sellschaft“: Als Auf­forderung an die Europäer näm­lich, sich auf vorstaatliche und ‑gesellschaftliche Gemein­schaftlichkeit und auf europäis­che Tugen­den: Dif­feren­zierungs- und Reflex­ionsver­mö­gen, an Kun­st geschul­tem Schön­heitsver­lan­gen, Sen­si­bil­ität, zu besin­nen und ihnen in der „geist­losen“ Gegen­wart des West­ens neue Gel­tung zu ver­schaf­fen.

Strauß sieht uns in eine Entschei­dungssi­t­u­a­tion gestellt. Die Zeit der „neuen Unüber­sichtlichkeit“ (Jür­gen Haber­mas) sei jeden­falls zu Ende: „Wir haben sie hin­ter uns. Es war eine schwache Zeit.“ Präzise wie kein ander­er hat Botho Strauß, der heute in Berlin und in der Uck­er­mark lebt, die Innen­seite dieser Schwäche beschrieben. Darin liegt seine bleibende Bedeu­tung.

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Zitat:

Er bleibt auf seinem Posten, der let­zte der Vere­inzelung. Nach ihm nur noch: die Min­der­heit­en.

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Schriften:

  • Rumor, 1980
  • Paare Pas­san­ten, 1981
  • Der junge Mann. Roman, 1984
  • Nie­mand anderes, 1987
  • Das Gle­ichgewicht. Stück in drei Akten, 1993
  • Wohnen, Däm­mern, Lügen, 1994
  • Itha­ka. Schaus­piel nach den Heimkehr-Gesän­gen der Odyssee, 1996
  • Die Fehler des Kopis­ten, 1997
  • Das Par­tiku­lar, 2000
  • Die Unbe­holfe­nen. Bewußt­sein­snov­el­le, 2007
  • Der Auf­s­tand gegen die sekundäre Welt. Bemerkun­gen zu ein­er Ästhetik der Anwe­sen­heit, 1999
  • Vom Aufen­thalt, 2009 (Erschei­n­ung­sort jew­eils München Wien)

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Lit­er­atur:

  • Ralf Havertz: Der Anstoß. Botho Strauß’ Essay „Anschwellen­der Bocks­ge­sang“ und die Neue Rechte. Eine kri­tis­che Diskur­s­analyse. 2 Bde, Berlin 2008
  • Pia-Maria Funke: Über das Höhere in der Lit­er­atur. Ein Ver­such zur Ästhetik von Botho Strauß, Würzburg 1996
  • Michael Wies­berg: Botho Strauß. Dichter der Gegen-Aufk­lärung, Dres­den 2002
  • Ste­fan Willer: Botho Strauß zur Ein­führung, Ham­burg 2000