Das Echolot — Walter Kempowski, 1993–2005

Wal­ter Kem­powskis Buch­pro­jekt Echolot umfaßt knapp 9 000 Seit­en. Die enor­men Textmassen gliedern sich in vier Teile und zehn Einzel­bände, die im Ver­lauf von zwölf Jahren erschienen sind. Befür­worter und Kri­tik­er stimmten von Anfang an darin übere­in, daß es sich um eines der ungewöhn­lich­sten Werke der deutschen Nachkriegslit­er­atur han­delt. Kem­powskis Autoren­schaft beschränk­te sich fast gän­zlich darauf, fremde Texte unter­schiedlich­ster Art und Herkun­ft zu sicht­en, zu ord­nen, auszuwählen und zu mon­tieren. In der Mehrzahl wur­den sie während des
Zweit­en Weltkriegs ver­faßt: Briefe, Tage­buch­no­ti­zen, Pressemel­dun­gen, mil­itärische Lage­berichte, Flug­blät­ter, Ein­träge in Ster­be­büch­er und vieles mehr. Hinzu kom­men einige nachträgliche Erin­nerun­gen von Zeitzeu­gen.

Kem­pows­ki konzen­tri­erte sich auf vier exem­plar­ische Zeitab­schnitte: auf den Som­mer und Win­ter 1941, als der deutsche Mil­itärschlag gegen die Sow­je­tu­nion erfol­gte und die Blitzkriegstrate­gie in der Schlacht vor Moskau schließlich scheit­erte; auf das Stal­in­grad-Debakel Anfang 1943; auf den Kriegswin­ter 1945, als die Trup­pen der Anti-Hitler-Koali­tion auf das Reichs­ge­bi­et vor­drangen und Flucht und Vertrei­bung ein­set­zten, sowie auf fünf Tage in der unmit­tel­baren End­phase des Krieges in Europa. Der Schlußband begin­nt mit dem 20. April 1945, Hitlers let­ztem Geburt­stag, wird fort­ge­set­zt mit dem 25. und 30. April, dem Todestag des Dik­ta­tors, und endet mit dem 8. und 9. Mai, den Tagen der Kapit­u­la­tion bzw. – in Ruß­land – des Sieges.

Zu Wort kom­men Deutsche und Aus­län­der, Poli­tik­er, hohe NS-Repräsen­tan­ten und Mil­itärs, KZ-Insassen, Exi­lanten, Wider­ständler, Kriegs­ge­fan­gene, Sol­dat­en, Opfer poli­tis­ch­er und ras­sis­ch­er Ver­fol­gung, Aus­land­sko­r­re­spon­den­ten, Schrift­steller und vor allem der sprich­wörtliche »Mann von der Straße«. Die Notate bericht­en über den All­t­ag an den Fron­ten und in den zer­bombten Städten genau­so wie über die Königsebene der Staatsmän­ner und mil­itärischen Entschei­dungsträger. Auss­chlaggebend für die Auswahl der Texte war auss­chließlich ihre Rel­e­vanz, die sich aus der Stel­lung oder Bekan­ntheit der Ver­fass­er, aus dem infor­ma­tiv­en Gehalt oder der atmo­sphärischen Dichte der Schilderung ergab. So ste­hen die Tage­buchein­tra­gun­gen von Pro­pa­gan­damin­is­ter Joseph Goebbels neben denen des Schrift­stellers Jochen Klep­per, der mit sein­er jüdis­chen Frau in den Tod ging, und so unter­schiedlich­er Autoren wie Albert Camus, Ilja Ehren­burg und Julien Green.

Der beson­dere doku­men­tarische Wert des Echolots aber ergibt sich erst aus der Ver­ar­beitung pri­vater Tage­büch­er, Briefe, Doku­mente, die Kem­pows­ki in jahrzehn­te­langer Samm­lertätigkeit zusam­menge­tra­gen und in einem riesi­gen Archiv in seinem Haus in Nar­tum bei Bre­men ver­sam­melt hat­te. Kem­pows­ki beließ auch den ungeübten Stim­men ihre Authen­tiz­ität.
Die Men­schen geben das Banale wie das Unge­heuer­liche, das sie erleben, in der Sprache wieder, die ihnen zur Ver­fü­gung ste­ht und ihr jew­eiliges Wis­sen und ihre Ein­sicht­en wider­spiegelt.

Dadurch entste­ht ein überzeu­gen­des Zeit­panora­ma und immer wieder auch die für Kem­powskis Gesamtwerk typ­is­che Tragikomik. So drückt eine zwanzigjährige Deutsche ihr Entset­zen über die KZ-Greuel, von denen sie eben erfahren hat, im Ton­fall der prop­eren Haus­frau aus: »Was müssen die Feinde von uns denken!« Aus der Nachkriegslit­er­atur ragt das Echolot weit­er­hin durch den Verzicht der deutsch­landzen­tri­erten Geschichtsmeta­physik her­aus, die für das bun­des­deutsche Kul­tur- und Geis­tesleben kon­sti­tu­tiv ist. Der Titel Echolot bezieht sich auf ein in der Seefahrt ver­wen­detes Gerät zur akustis­chen Mes­sung von Wasser­tiefen. Das bedeutet, daß Kem­pows­ki sich als Medi­um, nicht als Richter der geschichtlichen Ereignisse und ihrer unter­schiedlichen Wahrnehmungen ver­ste­ht. Es bleibt dem Leser selb­st über­lassen, die Bestandteile sein­er Geschichtscol­lage sin­ngebend miteinan­der in Beziehung zu set­zen.

Dieses Zutrauen in den mündi­gen Leser brachte ihm den Vor­wurf ein, er ver­harm­lose die Schreck­en des Nation­al­sozial­is­mus. Ein­flußre­iche Lit­er­aturkri­tik­er wie Fritz J. Rad­datz bestrit­ten den Lit­er­atur-Charak­ter der Textmon­ta­gen. Mar­cel Reich-Ran­ic­ki sprach in der ZDF-Sendung »Lit­er­arisches Quar­tett« abschätzig von »Tele­fon­büch­ern«. Hinge­gen schrieb FAZ-Her­aus­ge­ber Frank Schirrma­ch­er von »ein­er der größten Leis­tun­gen der Lit­er­atur unseres Jahrhun­derts«. Mit der Vol­len­dung des Zyk­lus set­zten die pos­i­tiv­en Ein­schätzun­gen sich weit­ge­hend durch. Dafür sorgten neben dem Pub­likum­ser­folg auch die Reak­tio­nen jün­ger­er Autoren. So bekun­dete  der ehe­ma­lige Pop-Lit­er­at Ben­jamin von Stuck­rad-Barre mehrmals seine Bewun­derung für Wal­ter Kem­pows­ki.

Den Sym­pa­thien für den langjähri­gen Außen­seit­er des Lit­er­aturbe­triebs entsprach der Über­druß an ein­er didak­tis­chmoral­isieren­den Lit­er­atur, die durch Hein­rich Böll und Gün­ter Grass per­son­ifiziert wurde. Mit dem Echolot wurde Kem­pows­ki als ein­er der Großen der deutschen Nachkriegslit­er­atur anerkan­nt. Die umfan­gre­iche Kem­pows­ki-Ausstel­lung, die Bun­de­spräsi­dent
Horst Köh­ler im Mai 2007 in der Akademie der Kün­ste in Berlin eröffnete und die vielfach Bezug auf das Echolot nahm, war eine der größten Dichter­würdi­gun­gen der Bun­desre­pub­lik.

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Zitat:

Das zweite Bild, an das ich erin­nern möchte, ist die »Alexan­der­schlacht« von Albrecht Alt­dor­fer, aus dem Jahr 1529: jenes bekan­nte Gemälde, auf dem Tausende von Kriegern auszu­machen sind, die gegeneinan­der wogen, um einan­der umzubrin­gen. Men­schen ohne Namen, Todgewei­hte, längst ver­mod­ert und vergessen, und doch Män­ner, die Frau und Kind zu Hause sitzen hat­ten, deren Keime wir als Nachkom­men in uns tra­gen.

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Aus­gabe:

  • Taschen­buchaus­gabe, 10 Bde., München: btb 2004–2007

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Lit­er­atur:

  • Volk­er Hage: Wal­ter Kem­pows­ki. Büch­er und Begeg­nun­gen, München 2009
  • Wal­ter Kem­pows­ki: Cul­pa. Noti­zen zum »Echolot«, München 2005