Stalingrad — Rußland, heute: Wolgograd

Auf etwa 40 Kilo­me­tern Länge und ein­er Tiefe von zehn Kilo­me­tern erstreckt sich die Mil­lio­nen­stadt Wol­gograd am west­lichen Ufer des Flusses, südlich des Wol­gaknies, wo der Strom seinen Lauf Rich­tung Südosten, dem Kaspis­chen Meer zu, ändert. Hier am Hochufer liegt jene Stadt, die unter dem Namen Stal­in­grad blutige Geschichte schrieb.

Dem heuti­gen Besuch­er ver­mit­telt Wol­gograd, wie die Stadt seit 1961 heißt, den Ein­druck ein­er nor­malen (sowjet-)russischen Großs­tadt, in der es an Gedenkstät­ten für den Großen Vater­ländis­chen Krieg, die an den entschlosse­nen Abwehrkampf der Helden­stadt Stal­in­grad erin­nern, nicht man­gelt. Deren bekan­nteste krönt die über­ra­gende Fig­ur der schw­ert­be­wehrten »Mut­ter Heimat« (russ. »Rod­i­na-Mat’€™«), die sich mit gut 70 Metern Höhe her­risch auf dem Mama­jew-Hügel in den Him­mel reckt. Sie gemah­nt des Opfers und des Sieges, dessen 70. Jahrestag Ruß­land im Jan­u­ar 2013 feier­lich beg­ing. Ihr zu Füßen liegt eine Gedenkstätte, die in sow­jetis­ch­er Beton-Mon­u­men­tal­ität an die Kämpfe der Jahre 1942/43 erin­nert.

Vom Mama­jew-Hügel, der »Höhe 102«, aus genießt der Besuch­er heute eine glänzende Aus­sicht über die Kraftwerke, Schlote, Brück­en und Indus­triean­la­gen, die das Wol­gaufer säu­men. In jen­er
Land­schaft aus Hochöfen und Fab­riken, die nach West­en hin in die baum- und strauchlose Steppe überge­ht, ver­lor sich ab dem Sep­tem­ber 1942 die deutsche 6. Armee, die mit dem Auf­trag am Don aufge­brochen war, die Metro­pole an der Wol­ga »unter die Wirkung unser­er schw­eren Waf­fen« (Weisung Nr. 41) zu brin­gen, um sie als Indus­tri­e­s­tandort und Verkehrsknoten auszuschal­ten und damit den Nach­schub über die Wol­ga abzuschnüren. Befohlen war die Ein­nahme der Stadt nicht.

Während die Wehrma­cht im Som­mer 1941 mit drei kampfkräfti­gen Heeres­grup­pen (Nord, Mitte und Süd) die Ziele Leningrad, Moskau und die Don-Lin­ie angriff, waren die Ver­luste des Win­ters
1941/42 der­art gravierend und uner­set­zlich gewe­sen, daß im Som­mer 1942 nur noch eine angriffs­fähige Heeres­gruppe ins Feld zog. Diese Heeres­gruppe Süd unter Gen­er­alfeld­marschall von Weichs sollte den Kauka­sus erre­ichen und die Ölfelder am Kaspis­chen Meer nehmen. Allein: Auf­trag und Mit­tel standen nicht in Ein­klang, zumal die Her­aus­forderun­gen des Raumes unzutr­e­f­fend beurteilt wor­den waren. Erschw­erend kam hinzu, daß die Sow­jets die Fehler des vor­ange­gan­genen Som­mer­feldzugs ver­mieden, das heißt, sie ent­zo­gen sich der Umfas­sung in die Tiefe des Raumes, so daß deutsch­er­seits wed­er der rus­sis­che Wider­stand nach­haltig gebrochen noch die vorgegeben Ziele erre­icht wer­den kon­nten.

Während ab dem Spät­som­mer 1942 nur ein dün­ner Schleier die überdehnte linke Flanke der Heeres­gruppe Süd sicherte, ver­biß sich die 6. Armee immer stärk­er im Kampf um die Ortschaft Stal­in­grad, der zwis­chen Walzs­traßen und Hochöfen, in den Miet­skaser­nen von Stock­w­erk zu Stock­w­erk und in der Kanal­i­sa­tion erbit­tert tobte. Jedoch war die ursprünglich panz­er­starke Armee für diese Form des Gefechts im bebaut­en Gelände wed­er aus­gerüstet noch im beson­deren Maße aus­ge­bildet, so daß das Rin­gen um Stal­in­grad die Kampfkraft der Armee aufzehrte. Schon in den Som­mer­monat­en zeigte das deutsche Mate­r­i­al, wie wenig es den beson­deren Beanspruchun­gen des rus­sis­chen Kli­mas wider­stand, weniger noch im herb­stlichen Schlamm und im win­ter­lichen Frost. Zudem offen­barten sich die Verbindungslin­ien der 6. Armee als überdehnt und zu schwach, um die aus­re­ichende Ver­sorgung der Armee zu gewährleis­ten.

Entsprechend ging keine aus­geruh­te­und nach Kriegsstärke­nach­weisung umfassend für die kalte Jahreszeit aus­gerüstete und verpflegte Truppe in den win­ter­lichen Kampf um Stal­in­grad, son­dern
eine stra­pazierte Armee, der es aber nicht an Moral und Kampfgeist man­gelte. Seit Jan­u­ar 1942 führte mit dem Gen­er­al der Panz­ertrup­pen Paulus ein Offizier den Ober­be­fehl, der sich zwar in Stab­sver­wen­dun­gen und als Lehrer an der Kriegss­chule bewährt hat­te, bish­er jedoch nicht als Trup­pen­führer.

Während Hitler schon im August wäh­nte, Stal­in­grad sei »qua­si« genom­men, erwies sich diese Behaup­tung angesichts des hart­näck­i­gen sow­jetis­chen Wider­stands, als halt­los. Vielmehr absorbierte die Stal­in­grad-Front zunehmend Kräfte. Die Schlacht um Stal­in­grad ist immer in den Kon­text der Oper­a­tio­nen der Heeres­gruppe Süd (später A und B/Kaukasus) einge­bet­tet zu betra­cht­en, nur vor dieser Folie find­et man zumin­d­est eine Antwort für den Verbleib der Armee im Raum Stal­in­grad nach Beginn der sow­jetis­chen Offen­sive am 19. Novem­ber 1942: näm­lich
um geg­ner­ische Kräfte zu binden.

Mit jen­er Offen­sive zielte die Rote Armee auf den unteren Don und die Stadt Ros­tow, um die rund 1,2 Mil­lio­nen Mann, die bis zum Kauka­sus zer­streut waren, abzuschnei­den und zu ver­nicht­en. Die Oper­a­tion gegen die 6. Armee ist nur ein Teilaspekt dieses gigan­tis­chen Rin­gens. Indem am 23. Novem­ber die Spitzen der bei­den Stoßarmeen bei Kalatsch, etwa 100 Kilo­me­ter west­lich Stal­in­grads zusam­men­trafen, war die 6. Armee eingeschlossen. Den Antrag von 6. Armee und Heeres­gruppe, der eingekessel­ten Armee Hand­lungs­frei­heit zu gewähren, um den Aus­bruch gegebe­nen­falls nach eigen­er Lage­beurteilung durch­führen zu kön­nen, beschied Hitler abschlägig, nach­dem Göring und die Luft­waffe beteuert hat­ten, daß die Luftver­sorgung (der 6. Armee)
möglich sei. Jedoch, die Luft­waffe ver­mochte an keinem Tag das erforder­liche Min­i­mum an Verpfle­gung, Pfer­de­fut­ter, Betrieb­sstof­fen und Muni­tion für die Ver­sorgung von 250 000 Mann und zig­tausend Pfer­den einzu­fliegen.

Während nun die zernierten Trup­pen in den Trüm­mern der Stadt oder in der öden Steppe um ihr Leben rangen, unter­nahm Feld­marschall von Manstein einen Entsatzan­griff – Oper­a­tion »Win­terge­wit­ter« der nicht bis zu den Eingeschlosse­nen durch­drang und am 23. Dezem­ber abge­brochen wer­den mußte. Dies besiegelte das Geschick der Trup­pen im Kessel. Seit­dem schritt die Auszehrung der Eingeschlosse­nen bei streng­stem Frost und min­i­maler Verpfle­gung ras­ant fort. Ungezählte Sol­dat­en erfroren oder star­ben an Entkräf­tung, Ver­wun­dete veren­de­ten unbe­han­delt, unverpflegt.

Zum Aus­bruch war die Armee man­gels Betrieb­sstoffs eben­so unfähig wie zum Durch­hal­ten. Demgemäß lag nach Wei­h­nacht­en 1942 die Frage der Kapit­u­la­tion auf der Hand, doch hat­te bish­er kein Großver­band der deutschen Wehrma­cht jemals kapit­uliert – undenkbar also. Das Ende ist bekan­nt: Nach­dem schließlich im Jan­u­ar die Flug­plätze ver­loren waren und keine Ver­sorgung mehr stat­tfand, starb die Armee bis zur Kapit­u­la­tion am 3. Feb­ru­ar dahin. Feld­marschall Paulus ergab sich bere­its per­sön­lich mit seinem Stab Tage zuvor am 31. Jan­u­ar im Keller des Kaufhaus­es »Uni­ver­mag«, wo heute ein Muse­um an das Ereig­nis erin­nert. Jenen, die entkräftet in die Gefan­gen­schaft marschierten, war ein härteres Los beschieden als Paulus, nur wenige über­lebten.

Rund 100 000 Namen gefal­l­en­er deutsch­er Sol­dat­en tra­gen die Stein­quad­er des deutschen Sol­daten­fried­hofs von Rossosch­ka, 40 Kilo­me­ter west­lich Wol­gograds. In unmit­tel­bar­er Nähe ruhen die rus­sis­chen Gefal­l­enen auf einem der weni­gen rus­sis­chen Fried­höfe auf dem Ter­ri­to­ri­um der Rus­sis­chen Föder­a­tion, ließ doch Stal­in alle Kriegs­gräber einebe­nen, um die unge­heuren Ver­luste gegenüber der Bevölkerung zu ver­schleiern. Hier stößt der Besuch­er heute auf eine der Hin­ter­lassen­schaften der Schlacht um die Wol­ga­metro­pole, die der 6. Armee zum Grab gewor­den war. Wie viele Tote – Deutsche und Sow­jets – im Boden Stal­in­grads ihre let­zte Ruhe fan­den, bleibt offen, oder eine Frage der Berech­nung. Nimmt man die in Gefan­gen­schaft ver­stor­be­nen Kämpfer der 6. Armee hinzu, so mögen es 250 000 Mann blutige Ver­luste gewe­sen sein. Eine enorme Zahl, zumal sich hin­ter jedem Gefal­l­enen ein Schick­sal, Müt­ter, Ange­hörige ver­ber­gen, und den­noch nur
ein Bruchteil jen­er Mil­lio­nen von Toten, die der Zweite Weltkrieg hin­ter­ließ.

Was macht Stal­in­grad zu einem so bedeu­tungss­chw­eren Ort? Gemein­hin gilt die Nieder­lage an der Wol­ga als Wen­depunkt des Krieges – weit gefehlt, denn den Kul­mi­na­tion­spunkt des Ost­feldzugs
markiert jen­er 5. Dezem­ber 1941, als der deutsche Angriff­ss­chwung nicht mehr aus­re­ichte, um Moskau zu nehmen. Von Stund an schlug das Pen­del des Geschehens uner­bit­tlich zurück. Und den­noch ver­fol­gt uns der mythis­che Name Stal­in­grads bis zum heuti­gen Tage. Zahllose Sach­büch­er, Romane – Hunde, wollt ihr ewig Leben? (1957) – und Kinofilme, wie Vils­maiers Stal­in­grad (1992) behan­deln das Sujet. Stal­in­grad ist und bleibt damit der Schick­sal­sort der Ost­front. Während die Ver­luste des ersten Ruß­land­win­ters nur in das Bewußt­sein der ver­ant­wortlichen Mil­itärs drangen, stil­isierte der NS-Staat den Opfer­tod der 6. Armee mit unendlichem Pathos. Erst­mals war nicht mehr von Frontverkürzun­gen oder der­gle­ichen die Rede, son­dern vom Unter­gang ein­er ganzen Armee, die allerd­ings, ihrem Eid getreu, bis zulet­zt helden­haft gekämpft hat­te.

Ähn­lich wie der Name Ver­duns für den Ersten Weltkrieg, gewann der Name Stal­in­grads für den Zweit­en eine Wirkungs­macht, die über die tat­säch­liche Bedeu­tung des mil­itärischen Geschehens
weit hin­aus­ge­ht. Stal­in­grad wurde in der Memo­ria zum Syn­onym für die deutsche Nieder­lage im Osten und damit den Wen­depunkt des Krieges. Schick­sal allerd­ings war diese Nieder­lage nicht, vielmehr stellt sie das Ergeb­nis zahlre­ich­er Lage­fehlbeurteilun­gen und gravieren­der Führungs­fehler dar.

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Lit­er­atur:

  • Jür­gen Förster: Zähe Leg­en­den. Stal­in­grad, 23. August 1942 bis 2. Feb­ru­ar 1943, in: Stig Förster/Markus Pöhlmann/Dierk Wal­ter: Schlacht­en der Welt­geschichte, München 2001, S. 325–337
  • Trup­pen­di­enst 330 (6/2012) hrsg. v. (österr.) Bun­desmin­is­teri­um für Lan­desvertei­di­gung
  • Franz Uhle-Wet­tler: Höhe- und Wen­depunk­te deutsch­er Mil­itärgeschichte, Graz 2006, S. 249–278
  • Bernd Weg­n­er: Der Krieg gegen die Sow­je­tu­nion 1942/43, in: MGFA (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6: Der glob­ale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wech­sel der Ini­tia­tive 1941–1943, München 1990, insb. S. 997‑1212