Der Aufstand gegen die sekundäre Welt — Botho Strauß, 1999

Das Buch Der Auf­s­tand gegen die sekundäre Welt ver­sam­melt sechs Auf­sätze und Essays, die der Dra­matik­er, Prosaau­tor und Essay­ist Botho Strauß zwis­chen 1987 und 1999 veröf­fentlichte. Vier davon waren in der FAZ erschienen: Der Auf­satz: »Die Dis­tanz ertra­gen« über den Dichter Rudolf Bor­chardt; die Dankesrede zur Ver­lei­hung des Büch­n­er­preis­es 1989, »Die Erde ein Kopf«; die Würdi­gung des Regis­seurs Peter Stein (»Das Maß an Wörtlichkeit«), mit dem Strauß an der Berlin­er Schaubühne zusam­mengear­beit­et hat­te; sowie »Zeit ohne Vor­boten«, eine Samm­lung von
Apho­ris­men, Med­i­ta­tio­nen, Notat­en.

Der Auf­satz »Anschwellen­der Bocks­ge­sang« war 1993 im Spiegel erschienen und hat­te eine heftige Feuil­leton-Debat­te aus­gelöst. Der Text schließlich, der dem Band den Titel gab, wurde als Nach­wort zur deutschen Aus­gabe von George Stein­ers Buch Von real­er Gegen­wart aus dem Jahr 1990 (engl. 1989) ver­faßt. Die zwei zulet­zt aufge­führten Titel sind die wichtig­sten und bekan­ntesten.

Äußer­er Anlaß der Essays war der sich ankündi­gende bzw. einge­tretene Weg­fall des Ost-West-Kon­flik­ts, der dem west­lichen Sys­tem den Wider­part nahm und es sei­ther zwingt, seine geistig-kul­turelle Legit­im­ität aus sich selb­st zu begrün­den. Entschei­dende Inspi­ra­tio­nen bezog Strauß aus der Beschäf­ti­gung mit dem in Cam­bridge lehren­den Lit­er­atur­wis­senschaftler George Stein­er, der seine These vom ent­fremde­ten Leben in ein­er sekundären Welt am Beispiel der Kun­st erläuterte. An die Stelle des primären Kun­ster­leb­niss­es, das den Rezip­i­en­ten zum kathar­tis­chen Erleb­nis und damit auf sich sel­ber zurück­führt, ist die Rezep­tion eines par­a­sitären Diskurs­be­triebs getreten, der das Bewußt­sein okkupiert. Der Geist unseres Zeital­ters ist der des Jour­nal­is­mus, der »eine Ethik trügerisch­er Zeitlichkeit«, d.h. eine hier­ar­chielose, »gle­ich­w­er­tige Augen­blick­lichkeit« schafft, in der alles gle­ich wichtig erscheint und vom Tageswert bes­timmt ist. Die  feuil­leton­is­tis­che, auf max­i­male Orig­i­nal­ität und Wirk­samkeit angelegte Zus­pitzung führt let­ztlich zur geisti­gen Uni­for­mität.

An diesen Befund knüpft Strauß unmit­tel­bar an, wenn er den Jour­nal­is­mus »die einzige, die höch­st­ste­hende kul­turelle Leis­tung der Nachkriegs­demokratie« nen­nt. Die von ihm erschaf­fene »umfassende Men­tal­ität des Sekundären« durch set­zt die Lit­er­atur, Philoso­phie, Bil­dung und den Glauben und hat zu ein­er kraft­los-empörungs­bere­it­en »Ther­sites-Kul­tur« geführt, »für deren Ver­bre­itung die deutsche Intel­li­genz ihr Bestes gab, Zug um Zug häßlich­er und lieblos­er wer­dend«. Strauß ver­mutet, daß die Konkur­ren­zlosigkeit der west­lichen Welt »sich in Zukun­ft gegen ihr eigenes Prinzip« wen­den werde.

Die hier for­mulierte ästhetis­che Oppo­si­tion erhält im »Anschwellen­den Bocks­ge­sang« eine poli­tis­che Akzen­tu­ierung. Strauß geste­ht seine Bewun­derung für die Kom­plex­ität der »freien Gesellschaft«, um dann ihre – möglicher­weise letale – Sys­temkrise zu diag­nos­tizieren. Als größte innere Gefahr erscheint ihm die Schrump­fung des west­lichen »Men­schen« zum aufgek­lärten,
den Massen­wohl­stand voraus­set­zen­den »Staats­bürg­er«, der ohne kul­turelle und religiöse Ferner­in­nerung dahindäm­mere. Dem amputierten Geschichts­be­wußt­sein entspricht seine geschrumpfte Vorstel­lung kün­ftiger Möglichkeit­en, die den Ern­st­fall auss­chließt und sich in Sozial­tech­nik erschöpft. Mit dem Vor­wurf, ein »immer rück­sicht­sloser­er« Lib­er­al­is­mus ver­höhne und demon­tiere das »Eigene« – Eros, Sol­da­ten­tum, Kirche, Autorität, Tra­di­tion –, begab Strauß sich in Frontstel­lung zur Haber­mass­chen Forderung nach der kom­mu­nika­tiv­en Ver­flüs­si­gung der gesellschaftlichen Struk­turen, des­gle­ichen mit der Frage, woraus denn die »freie Gesellschaft« im Kon­flikt mit dem »Frem­den« ihre Kraft zur Selb­st­be­haup­tung noch schöpfen wolle. Mit dem
Angriff auf die »Total­herrschaft der Gegen­wart« schrieb er Novalis’€™ Kri­tik am »mod­er­nen Unglauben« fort. Dessen Anhänger, so der Frühro­man­tik­er, seien unabläs­sig damit beschäftigt, »die Natur, den Erd­bo­den, die men­schlichen See­len und die Wis­senschaften von der Poe­sie zu säu­bern, – jede Spur des Heili­gen zu ver­til­gen, das Andenken an alle erhebende Vor­fälle und Men­schen durch Sarkas­men zu ver­lei­den« und »die Zuflucht zur Geschichte abzuschnei­den«.

Gegen den Diskurs­be­trieb der Medi­en, die von »gut schreiben kön­nen­den Anal­pha­beten« beherrscht wer­den, insistiert Strauß, »daß die magis­chen Orte der Abson­derung, daß ein ver­sprengtes Häu­flein von inspiri­erten Nichtein­ver­stande­nen für den Erhalt des all­ge­meinen Ver­ständi­gungssys­tems uner­läßlich ist«. Kri­tik­er bemän­gel­ten, daß Strauß nicht ana­lytisch, son­dern assozia­tiv vorge­he und seine Sprache am Pathos ein­er anti­aufk­lärerischen deutschen Dichter­tra­di­tion anknüpfe. Seine Vertei­di­ger führten an, daß er damit die sekundäre Diskurssprache aufge­sprengt und eine Dis­tanz geschaf­fen habe, aus der ihre Analyse und fäl­lige Über­win­dung möglich werde.

Der Auf­satz löste einen Medi­en­sturm aus, der sich noch steigerte, als »Anschwellen­der Bocks­ge­sang« 1994 in den Sam­mel­band Die selb­st­be­wußte Nation aufgenom­men wurde, den kon­ser­v­a­tive Pub­lizis­ten, His­torik­er und Philosophen veröf­fentlicht­en. Beze­ich­nend ist die Polemik des Sozi­olo­gen Ste­fan Breuer, der als Experte für das Phänomen der Kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion gilt und der Botho Strauß durch die »verzerrende(n) Effek­te eines gestörten und dadurch patho­genen Narz­iß­mus« sowie durch »qua­sire­ligiöse und sek­ten­för­mige Züge« bes­timmt sah. In solchen Polemiken spiegel­ten sich die Irri­ta­tio­nen und Beängs­ti­gun­gen, die Strauß in ein­er sat­uri­erten, doch ihrer selb­st nicht sicheren lib­eralen Gesellschaft bewirkt. Die Fer­n­wirkung des Textes dauert an.

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Zitat:

Es ziehen aber Kon­flik­te her­auf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spie­len kön­nte, daß der reiche Wes­teu­ropäer sozusagen auch sit­tlich über seine Ver­hält­nisse gelebt hat, da hier das »Mach­bare« am wenig­sten an seine Gren­zen stieß. Es ist gle­ichgültig, wie wir es bew­erten, es wird schw­er zu bekämpfen sein: Daß die alten Dinge nicht ein­fach über­lebt und tot sind, daß der Men­sch, der Einzelne wie der Volk­szuge­hörige, nicht ein­fach nur von heute ist.

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Aus­gabe:

  • 2., über­ar­beit­ete Neuaus­gabe, München/ Wien: Hanser 2004

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Lit­er­atur:

  • Weimar­er Beiträge 40 (1994), Heft 2 (The­men­heft zu Botho Strauß und dem »Anschwellen­den Bocks­ge­sang«)
  • Michael Wies­berg: Botho Strauß. Dichter der Gege­naufk­lärung, Dres­den 2002