Der nationale Sozialismus — Karlheinz Weißmann, 1998

Das in sieben Kapi­tel gegliederte Buch behan­delt im etwa gle­ichen Umfang mehr ideen­be­zo­gen die Vorgeschichte des Nation­al­sozial­is­mus (NS) und dann ver­stärkt realpoli­tisch den speziellen deutschen NS, von der Parteigrün­dung in München bis zur »Machter­grei­fung« von 1933. Ideengeschichtlich erk­lärt sich der NS aus dem lan­gen 19. Jahrhun­dert, das struk­turell von der Franzö­sis­chen bis zur Rus­sis­chen Rev­o­lu­tion, also von 1789 bis 1917 reicht. Macht­poli­tisch stellte es, nicht zulet­zt wegen des his­torischen Aus­gangspunk­ts der Indus­tri­al­isierung, ein englis­ches Jahrhun­dert dar, für das ide­ol­o­gisch der Lib­er­al­is­mus maßgebend war.

Der durch ihn her­beige­führte Kon­sti­tu­tion­al­is­mus, die Machteilung zwis­chen (meist) monar­chis­ch­er Exeku­tive und mehr oder weniger demokratis­chem Par­la­ment stellte die übliche europäis­che Regierungs­form dar, von der etwa Ruß­land nach rechts und Frankre­ich nach links abwich. Diese Linksab­we­ichung, die nach zeit­genös­sis­ch­er Auf­fas­sung seine chro­nis­che Insta­bil­ität erk­lärte, machte Frankre­ich zum Lab­o­ra­to­ri­um neuzeitlich­er poli­tis­ch­er Ideen, die von Lib­er­al­is­mus und Kon­ser­v­a­tivis­mus wegführten. Zu diesen neuen Strö­mungen zählte auch der NS. Zwar lassen sich etwa ab 1890 Vor­läufer des NS auch in anderen Län­dern fest­stellen, die weit­ge­hend unab­hängig voneinan­der ent­standen waren, jedoch hat der NS in Frankre­ich am ehesten eine einiger­maßen kohärente Form angenom­men. Kennze­ich­nend für den NS ist ein sozial­is­tis­ch­er Nation­al­is­mus, der sich in Frankre­ich unmit­tel­bar aus der jakobinis­chen Tra­di­tion ergab. Dazu kommt eine bes­timmte Vari­ante des sozialdemokratis­chen Revi­sion­is­mus, der die Wen­dung der marx­is­tis­chen Sozialdemokratie zum lib­eralen Ver­fas­sungsstaat nicht mit­machen wollte und als Agens des Fortschritts die Klasse durch die Nation, wenn nicht gar durch die Rasse erset­zte. Dies ver­band sich naht­los mit der sozial­is­tis­chen Vari­ante des Sozial­dar­win­is­mus und mit Sozialimpe­ri­al­is­mus: Der Staat müsse durch Eugenik die biol­o­gis­che Evo­lu­tion in die Hand nehmen. Die zum Sozial­is­mus geeignete Nation würde sich im Inter­esse des let­ztlich ras­sisch bes­timmten Men­schheits­fortschritts damit weltweit durch­set­zen.

Der NS bekam durch die Krise der poli­tis­chen Strö­mungen des 19. Jahrhun­derts, die keine befriedi­gen­den Antworten mehr zu geben schienen, eine Real­isierungschance. Von dieser Krise wurde auch die Sozialdemokratie erfaßt, die damit keine Alter­na­tive zum Lib­er­al­is­mus mehr zu bieten schien, dessen Regierungskonzep­tion sich ihr main­stream let­ztlich anschließen wollte. Als wesentlich­es Ele­ment der Massen­mo­bil­isierung gegen den Lib­er­al­is­mus zeigte sich der Anti­semitismus, der sich in sein­er neuzeitlichen Form, schon auf­grund des Rück­gangs der tra­di­tionellen Reli­giosität, von religiösen Vor­be­hal­ten löste und dabei in ein ras­sis­ches Konzept über­führt wurde. »Kap­i­tal­is­mus«, und damit die lib­erale Gesellschaft­sor­d­nung, kon­nte dann als Ver­wirk­lichung des Juden­tums ange­se­hen wer­den, das es durch Sozial­is­mus zu über­winden galt. Deshalb sollte nicht ver­wun­dern, daß abge­se­hen von Saint-Simon prak­tisch alle Grün­dungsväter des franzö­sis­chen Sozial­is­mus anti­semi­tis­chen Ideen anhin­gen.

Die Darstel­lung der poli­tis­chen Entwick­lung in Deutsch­land, die in der zweit­en Hälfte des Buch­es erfol­gt, führt zu der Erken­nt­nis, daß die Machter­grei­fung des NS keine aus­gemachte Sache war. Generelle Voraus­set­zung dafür war der unter den beschränk­ten außen­poli­tis­chen Bedin­gun­gen erfol­gte Über­gang zur Massendemokratie, welche die Chan­cen der­jeni­gen poli­tis­chen Aktivis­ten entsch­ieden erhöhte, welche effek­tive Parteimaschi­nen kreierten und eine massenpsy­chol­o­gisch wirk­same Pro­pa­gan­da mit roten Fah­nen und dynamisch wirk­ender poli­tis­chen Zeichenset­zung insze­nieren kon­nten. Diese Wirk­samkeit wurde durch eine volksparteiliche Selb­stveror­tung »jen­seits von links und rechts«, die bewußt die Extreme dieser Rich­tun­gen anzog, entsch­ieden erhöht.

Eine angemessene Würdi­gung des NS-Phänomens muß dementsprechend darauf hin­weisen, daß der NS nicht nur, was als unstre­it­ig anerkan­nt wird, ein Nation­al­is­mus gewe­sen ist, son­dern, daß er auch ein gen­uin­er Sozial­is­mus war. Bew­ertet nach der marx­is­tis­chen Ortho­dox­ie stellt der NS sicher­lich eine Sozial­is­mus-Häre­sie dar, die aber in der Tra­di­tion ins­beson­dere des franzö­sis­chen Sozial­is­mus des 19. Jahrhun­derts angelegt war. Nicht zulet­zt ergibt sich die Ähn­lichkeit von NS und Inter­na­tion­al­sozial­is­mus im Ver­gle­ich zu den anderen ide­ol­o­gis­chen Strö­mungen, Kon­ser­v­a­tivis­mus und Lib­er­al­is­mus.

Mit sein­er umfassend belegten Darstel­lung weicht Weiß­mann von der seit 1945 insti­tu­tion­al­isierten Volk­späd­a­gogik ab, die den NS als Radikalisierung des »deutschen Son­der­weges« anse­hen will, der, auf Luther, wenn nicht gar auf Arminius zurück­ge­hend, zwin­gend »nach Auschwitz« führen »mußte«. Diese teil­weise mit rechtlichen Zwangs­maß­nah­men geschützte, qua­si-amtliche Einord­nung beschränkt daher den poli­tis­chen Plu­ral­is­mus in Deutsch­land »gegen rechts«. Das Buch von Weiß­mann belegt demge­genüber, daß vor allem die franzö­sis­che Kul­tur mit dem NS schwanger gegan­gen war und schon deshalb der his­torische NS – der nur auf­grund des ins­beson­dere von Frankre­ich zu ver­ant­wor­tenden Ver­sailler Ver­trages eine Chance zur Machter­grei­fung in Deutsch­land bekom­men kon­nte – kein Argu­ment dafür darstellt, noch im mit­tler­weile 21. Jahrhun­dert die Deutschen durch Plu­ral­is­mus­beschränkung zu diskri­m­inieren.

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Zitat:

Die Nation­al-Sozial­is­ten anerkan­nten das demokratis­che Zeital­ter insofern, als sie die Legit­i­ma­tion immer in der Zus­tim­mung des Volkes sucht­en.

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Lit­er­atur:

  • Josef Schüßl­burn­er: Rot­er, brauner und grün­er Sozial­is­mus. Bewäl­ti­gung ide­ol­o­gis­ch­er Übergänge von SPD bis NSDAP und darüber hin­aus, Greven­broich 2008