Der Staat der Industriegesellschaft — Ernst Forsthoff, 1971

Das Erscheinen des Buch­es von Forsthoff erk­lärt sich aus der neuar­ti­gen Verfassungs‑, Rechts- und Staatswirk­lichkeit, die zwis­chen 1950 und 1970 ent­stand; eine wesentliche Rolle spiel­ten dabei die Debat­ten um »Sachzwänge«, in die sich die kon­so­li­dierte Bun­desre­pub­lik gestellt sah.

Forsthoffs Kern­these lautet, daß die Bun­desre­pub­lik durch die Inter­de­pen­den­zen mit der Wirtschaft ein sta­biles Gemein­we­sen bleibt, obwohl die herkömm­liche staatliche Sou­veränität im Zuge der sozialen und tech­nis­chen »Real­i­sa­tion« geschwun­den ist. Die Frage nach der staatlichen Sou­veränität, d. h. hoheitlich­er Macht und der Durch­set­zungschance sit­tlich­er Ansprüche, ist keineswegs über­flüs­sig gewor­den, auch wenn Staat und Gesellschaft immer mehr zusam­men­fließen. Die bürg­er­liche Gesellschaft ist durch die Indus­triege­sellschaft erset­zt, in der die Frei­heit des einzel­nen von tech­nol­o­gis­chen Entwick­lun­gen und gesellschaftlichen Zumu­tun­gen bedro­ht ist. Doch ist unser Staat aus his­torischen Grün­den kein­er wirk­lichen »geisti­gen Selb­st­darstel­lung« mehr fähig.

Der Darstel­lung dieses ersten, eher grund­sät­zlichen Aspek­ts fol­gen in Forsthoffs Buch dann Kapi­tel über die rechtlich poli­tis­chen Verän­derun­gen, »welche die innere Sou­veränität aufheben« oder erhe­blich mod­i­fizieren. So ver­wan­delt sich die Ver­fas­sung »aus einem Rechtsin­stru­ment poli­tis­ch­er Ord­nung in ein Sozial­pro­gramm«, das den Staat zur all­ge­meinen Daseinssicherung nötigt, Ver­wal­tung und öffentliche Pla­nung pro­fes­sion­al­isieren sich und ver­lieren hoheit­srechtliche Funk­tio­nen, das Par­la­ment ste­ht unter dem Druck der Gegen­sätze der gesellschaftlichen Kräfte und der Parteien ein­er­seits, der Sachentschei­dun­gen ander­er­seits; der Wäh­ler fol­gt nur noch seinen Einzelin­ter­essen, und die Jus­tiz etabliert sich als eigen­ständi­ge poli­tis­che Instanz durch wer­tende Umdeu­tung der Grun­drechte. Hinzu kom­men in Zukun­ft supra­na­tionale Insti­tu­tio­nen.

Trotz dieser im Effekt ent­poli­tisieren­den (sprich: ent­mächti­gen­den) Wirkun­gen zeigt sich der Staat der Bun­desre­pub­lik verblüf­fend sta­bil. Wech­sel­seit­ige Koop­er­a­tio­nen und Abhängigkeit­en zwis­chen Wirtschaft und Staat zeich­nen dafür gle­icher­maßen ver­ant­wortlich wie das Massenbedürf­nis nach einem leis­tungs­fähi­gen Garan­ten des Lebens­stan­dards. Forsthoff erzielte mit seinem Buch keine Bre­it­en­wirkung. Die (über­wiegend linke) Kri­tik ord­nete ihn abwehrend in den »tech­nokratis­chen Kon­ser­v­a­tivis­mus« ein, obwohl er bere­its die Umwelt­prob­lematik unter dem Gesicht­spunkt eines gegen­s­teuern­den Staates behan­delte.

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Zitat:

Man muß, was die poli­tis­che Kon­sis­tenz des Staates anbe­langt, völ­lig umler­nen … Der harte Kern des heuti­gen sozialen Ganzen ist nicht mehr der Staat, son­dern die Indus­triege­sellschaft, und dieser harte Kern ist durch die Stich­worte Vollbeschäf­ti­gung und Steigerung des Sozial­pro­duk­ts beze­ich­net.

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Lit­er­atur:

  • Willi Blümel u. a. (Hrsg.): Ernst Forsthoff. Kol­lo­qui­um aus Anlass des 100. Geburt­stags, Berlin 2003