Der Verlust der Tugend — Alasdair MacIntyre, 1981

Die »moralis­che Krise der Gegen­wart« beste­ht laut Mac­In­tyre, der als gebür­tiger  Schotte seit den sechziger Jahren in den Vere­inigten Staat­en Philoso­phie lehrt, vor allem in der Ver­wahrlosung der moralis­chen Sprache. Die Begriffe, mit denen sie operiert, sind aus dem eigentlichen Zusam­men­hang, in dem ihre Ver­wen­dung sin­nvoll ist, geris­sen. Diese Ver­wahrlosung führt vor allem deshalb zu den end­losen Debat­ten um Grund­satzfra­gen, weil in ihnen moralis­che Äußerun­gen gebraucht wer­den, um Mei­n­ungsver­schieden­heit­en zum Aus­druck zu brin­gen. Die jew­eili­gen Argu­mente sind dabei in sich logisch schlüs­sig und den­noch nicht in der Lage, eine Entschei­dung her­beizuführen, weil sie von unter­schiedlichen, meist per­sön­lichen, Prämis­sen abhängig sind, die unmöglich auf einen gemein­samen Nen­ner gebracht wer­den kön­nen. Eine Kri­tik dieses Zus­tandes wird dadurch erschw­ert, daß auch seine Kri­tik­er von dieser Ver­wahrlosung betrof­fen sind.

Mac­In­tyre geht deshalb davon aus, daß die »moralis­che Krise der Gegen­wart« nur von einem Stand­punkt aus beschreib­bar ist, der außer­halb dieser Gegen­wart liegt. Er stellt sich in die Tra­di­tion der aris­totelis­chen Moral und nimmt diese als Maßstab. Mac­In­tyre macht dabei nicht den Fehler, die aris­totelis­che Moral für eine Moral an sich zu hal­ten. Diese kann es nicht geben, son­dern immer nur eine konkrete Moral, die in bes­timmten his­torischen und sozialen Zusam­men­hän­gen ste­ht. Deshalb begin­nt Mac­In­tyre bei der Darstel­lung der Tugen­den mit der Prax­is. So wer­den die Zwecke und Ziele der Tugen­den, die nicht nur um ihrer selb­st willen aus­geübt wer­den, deut­lich.

Tugend definiert Mac­In­tyre als eine erwor­bene Eigen­schaft, »die den einzel­nen in die Lage ver­set­zt, sich auf das Erre­ichen des spez­i­fisch men­schlichen Telos zuzube­we­gen, gle­ichgültig ob es natür­lich oder über­natür­lich ist«. Sie ermöglicht es uns, die Güter zu erre­ichen, die aus der Prax­is men­schlich­er, koop­er­a­tiv­er Tätigkeit fol­gen bzw. deren Resul­tat sind. Ziel des tugend­haften Han­delns ist, die »Vortr­e­f­flichkeit« zu erre­ichen, die dieser Prax­is und ihren Gütern angemessen ist. Mac­In­tyre unter­schei­det dabei zwis­chen ein­er Tätigkeit und der Prax­is, in der diese ihren Platz hat: »Mauern ist keine Prax­is, wohl aber die Architek­tur.« Ohne die Tugend, auch das ist noch Teil der Def­i­n­i­tion, ist es nicht möglich, diese Güter zu erre­ichen, weil erst die Tugen­den uns dazu brin­gen, die Widrigkeit­en, die uns auf dem Weg zu den Gütern begeg­nen, zu über­winden.

Der Erwerb der Tugen­den und ihre Ausübung find­en nicht im luftleeren Raum statt, son­dern ste­hen im Kon­text der Tra­di­tio­nen ein­er Gemein­schaft, die ver­fall­en und sich auflösen kön­nen. Nur die Ausübung der rel­e­van­ten Tugen­den stärkt die Tra­di­tio­nen, die wiederum die Tugen­den tradieren. Mit diesem Plä­doy­er für Tra­di­tion und Gemein­schaft macht Mac­In­tyre deut­lich, woge­gen er argu­men­tiert: gegen Indi­vid­u­al­is­mus und Lib­er­al­is­mus. Dieser war in 300 Jahren nicht in der Lage, einen ratio­nal vertret­baren, all­ge­me­ingülti­gen Stand­punkt zu entwick­eln, weil es in der lib­eralen Natur liegt, daß es einen solchen nicht geben kann. Deshalb ist die Aufk­lärung gescheit­ert. Eben­so kri­tisiert Mac­In­tyre den Marx­is­mus, der ähn­lich grund­los opti­mistisch wie der Lib­er­al­is­mus ist. Mac­In­tyre kommt zu dem Schluß, daß alle gegen­wär­ti­gen poli­tis­chen Tra­di­tio­nen erschöpft sind und damit auch der Kon­ser­vatismus, den er eben­falls einem zer­set­zen­den Indi­vid­u­al­is­mus verpflichtet sieht.

Auch wenn immer wieder zu lesen ist, Mac­In­tyre sei ein Vertreter des  Kom­mu­ni­taris­mus, hat er die Beze­ich­nung für sich immer wieder abgelehnt. Er sieht auch diese Idee mit dem Lib­er­al­is­mus ver­bun­den und kann Gemein­schaft an sich nichts abgewin­nen. Es geht Mac­In­tyre immer um eine konkrete Gemein­schaft, die angesichts der »moralis­chen Krise« bes­timmte Forderun­gen erfüllen muß. Sein abschließen­der Hin­weis auf den hl. Benedikt ver­weist den Leser auf lokale For­men von Gemein­schaft, die in Zeit­en sozialer und kul­tureller Dunkel­heit über­leben und ihre Tra­di­tion pfle­gen kön­nen. Daß dieser Hin­weis in den let­zten 30 Jahren nicht ver­standen wurde, ändert nichts daran, daß Der Ver­lust der Tugend eines der wichtig­sten philosophis­chen Büch­er ist, das vor dem Hin­ter­grund der gegen­wär­ti­gen Hochschätzung der »Werte« nichts von sein­er Gültigkeit ver­loren hat.

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Zitat:

Das gute Leben für den Men­schen ist das Leben, das in der Suche nach dem guten Leben für den Men­schen ver­bracht wird, und die für die Suche notwendi­gen Tugen­den sind jene, die uns in die Lage ver­set­zen, zu ver­ste­hen, worin darüber hin­aus und worin son­st noch das gute Leben für den Men­schen beste­ht.

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Aus­gabe:

  • Erweit­erte Neuaus­gabe, Frank­furt a. M.: Cam­pus 2006.

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Lit­er­atur:

  • Charles Tay­lor: Quellen des Selb­st. Die Entste­hung der neuzeitlichen Iden­tität, Frank­furt a. M. 1994.