Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus — Carl Schmitt, 1923

Um Auf­schluß über die gegen­wär­tige Lage ein­er poli­tis­chen Insti­tu­tion zu erlan­gen, ist es zuerst notwendig, sich des ihr zugrun­deliegen­den Begriffes und seines ideellen Gehaltes bewußt zu wer­den. Erst dann läßt sich nachvol­lziehen, ob diese Insti­tu­tion – etwa der Par­la­men­taris­mus – den aktuellen Gegeben­heit­en gewach­sen ist. Diese Über­legung bildet den Aus­gangspunkt in Carl Schmitts Unter­suchung, die erst­mals im Krisen­jahr 1923 erschien.

Ein Umstand, der nach Schmitt die inhaltliche Bes­tim­mung des Par­la­men­taris­mus so schwierig macht, ist die his­torisch-poli­tis­che Verbindung, die er während des 19. Jahrhun­derts mit der Demokratie im gemein­samen Kampf gegen die Monar­chie einge­gan­gen war. Auf­grund dessen herrscht bis in unsere Gegen­wart die Ansicht vor, daß diese bei­den Kom­plexe natür­licher­weise zusam­menge­hören und nicht getren­nt voneinan­der beste­hen kön­nen.

Der Par­la­men­taris­mus als poli­tis­che Idee gehört der geisti­gen Welt des Lib­er­al­is­mus an. Ihm liegt der Glaube an Diskus­sion und Öffentlichkeit, ein »gov­ern­ment by dis­cus­sion«, zugrunde. Dies ist der zutief­st lib­erale Glaube daran, daß es möglich ist, den Geg­n­er mit­tels ratio­naler Argu­men­ta­tion von der Wahrheit eines Argu­ments zu überzeu­gen. Die Ver­wirk­lichung dieses Gedankens in der Insti­tu­tion des Par­la­ments ist allerd­ings an bes­timmte Voraus­set­zun­gen gebun­den, wie beispiel­sweise Unab­hängigkeit und Aufgeschlossen­heit der Par­la­men­tari­er.

Sind diese Bedin­gun­gen nicht mehr gegeben, etwa auf­grund unüber­brück­bar­er ide­ol­o­gis­ch­er Dif­feren­zen, parteipoli­tis­ch­er Abhängigkeit oder wirtschaftlich­er Ein­fluß­nahme, kann der Par­la­men­taris­mus seinem ursprünglichen Ide­al nicht mehr gerecht wer­den; es wer­den dann nur noch Kom­pro­misse zwis­chen sich ent­ge­gen­ste­hen­den Inter­essen aus­ge­han­delt. Eine Diskus­sion im eigentlichen Sinne find­et nicht mehr statt. In ein­er Massendemokratie geht es darum, möglichst große Mehrheit­en zu erzie­len, mit denen regiert wer­den kann. Dabei kom­men Mit­tel der Pro­pa­gan­da und Manip­u­la­tion zum Ein­satz, die in erster Lin­ie an Lei­den­schaften und Einzelin­ter­essen appel­lieren. Die Ver­nun­ft im Sinne des Abwä­gens der Argu­mente spielt, wenn über­haupt, nur noch eine mar­ginale Rolle.

Weit­er­hin weist Schmitt auf den allen lib­eralen Ideen wesens­mäßig frem­den Charak­ter der Demokratie hin. Nicht das all­ge­meine und gle­iche Wahlrecht ist das entschei­dende Merk­mal der Demokratie, son­dern die Homogen­ität ihrer Bürg­er. Dem entspricht auf der anderen Seite die Abgren­zung von allem Het­ero­ge­nen: »Jede wirk­liche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gle­ich­es gle­ich, son­dern, mit unver­mei­dlich­er Kon­se­quenz, das Nicht­gle­iche nicht­gle­ich behan­delt wird.«

Worin genau diese Gle­ich­heit beste­ht, ist dabei erst ein­mal offen. Es kann sich um gemein­same Wertvorstel­lun­gen, physis­che Merk­male oder religiöse Überzeu­gun­gen han­deln. Wichtig ist, daß die Gle­ich­heit insofern sub­stanzhaft ist, als die Möglichkeit ein­er Ungle­ich­heit, und damit ein­er Abgren­zung, immer beste­ht. Eine all­ge­meine Gle­ich­heit, die meint, ohne jeglich­es Unter­schei­dungsmerk­mal auszukom­men, und daher jedem Men­schen lediglich auf­grund sein­er Eigen­schaft als Men­sch die gle­ichen Rechte zuerken­nt, kann keine poli­tis­che Ein­heit begrün­den und aufrechter­hal­ten. Ein Staat, der die all­ge­meine Gle­ich­heit ver­wirk­lichen will, löst sich unweiger­lich selb­st auf.

Carl Schmitt betra­chtete den Glauben an den Par­la­men­taris­mus als erloschen. Er sah diesen Bedeu­tungsver­lust lib­eraler Ideen vor einem weit­en Hin­ter­grund, der auch die Ablö­sung des marx­is­tis­chen Sozial­is­mus – als ein­er von Hegels Geschichts­di­alek­tik aus­ge­hen­den ratio­nal­is­tis­chen Ide­olo­gie – durch eine irra­tionale, den Mythos in den Vorder­grund rück­ende Weltan­schau­ung umfaßte. Man­i­fes­ta­tio­nen dieser Stärke des poli­tis­chen Mythos erkan­nte er sowohl im faschis­tis­chen Ital­ien als auch im bolschewis­tis­chen Ruß­land. Ein Jahrzehnt nach Schmitts Diag­nose wurde der Par­la­men­taris­mus auch in Deutsch­land sus­pendiert, um nach der Nieder­lage von 1945 im Zuge der »lib­eralen Restau­ra­tion« (Hans-Diet­rich Sander) wieder aufzuer­ste­hen, als ob es Weimar nie gegeben hätte.

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Zitat:

Sind Öffentlichkeit und Diskus­sion in der tat­säch­lichen Wirk­lichkeit des par­la­men­tarischen Betriebes zu ein­er leeren und nichti­gen For­mal­ität gewor­den, so hat auch das Par­la­ment, wie es sich im 19. Jahrhun­dert entwick­elt hat, seine bish­erige Grund­lage und seinen Sinn ver­loren.

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Aus­gabe:

  • 9. Auflage (Nach­druck der 2. Auflage von 1926), Berlin: Dunck­er & Hum­blot 2010

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Lit­er­atur:

  • Hans-Diet­rich Sander: Kri­tik der lib­eralen Restau­ra­tion, in: ders.: Der nationale Imper­a­tiv. Ideengänge und Werk­stücke zur Wieder­her­stel­lung Deutsch­lands, Essen ²1990
  • Thor von Wald­stein: Der Beutew­ert des Staates. Carl Schmitt und der Plu­ral­is­mus, Graz 2008