Die herrschende Klasse — Gaetano Mosca, 1896

Der Begriff »poli­tis­che Klasse« war in Deutsch­land lange Zeit ver­pönt, weil er den Ein­druck ein­er demokratisch nicht legit­imierten, kas­te­nar­tig abgeschlosse­nen Führungs­gruppe ver­mit­telte, den man unbe­d­ingt ver­mei­den wollte. Mit­tler­weile ist diese Empfind­lichkeit geschwun­den, was nicht nur auf das gewach­sene Selb­st­be­wußt­sein des Estab­lish­ments zurück­zuführen ist, son­dern auch auf eine gewisse Ernüchterung in bezug auf ide­ale Vorstel­lun­gen von Demokratie und bürg­er­lich­er Gle­ich­heit.

Eine Ernüchterung hat­te der Erfind­er des Ter­mi­nus ohne Zweifel im Sinn. Gae­tano Mosca, von Hause Jurist, strebte mit seinem Buch genau das an: die Auf­gabe der Illu­sio­nen im Hin­blick auf das gemein­same Struk­turele­ment aller poli­tis­ch­er Organ­i­sa­tion, ganz gle­ich, ob es sich um Demokratie, Oli­garchie oder Monar­chie han­delt. Das lag sein­er Mei­n­ung nach in der unaufheb­baren, mehr oder min­der deut­lichen Schei­dung zwis­chen ein­er herrschen­den Min­der­heit und ein­er beherrscht­en Mehrheit, ein­er Elite, die die Macht­mit­tel monop­o­lisiert, und ein­er Menge, die das frei­willig oder unfrei­willig hin­nimmt.

Viele dieser Ein­sicht­en waren nicht neu und Moscas Zuord­nung zur Gruppe der »Machi­avel­lis­ten« (James Burn­ham) ohne Zweifel zutr­e­f­fend, wenn man mit diesem Namen jene poli­tis­chen Denker ver­sieht, die eine veris­tis­che Sicht der Dinge vorziehen. Allerd­ings ist auch unverkennbar, daß die erste Fas­sung seines Buch­es am Ende des 19. Jahrhun­derts als Reak­tion auf den Kampf zwis­chen dem auf­streben­den lib­eralen Bürg­er­tum, der alten kon­ser­v­a­tiv­en Aris­tokratie und der neuen sozial­is­tis­chen Arbeit­er­be­we­gung ent­standen war. Mosca war ein Repräsen­tant des Lib­er­al­is­mus, eines belehrten Lib­er­al­is­mus allerd­ings, dessen Zweifel an sein­er älteren Sym­pa­thie für den demokratis­chen Gedanken wuchs, der immer deut­lich­er sah, daß die mod­erne Indus­triege­sellschaft nicht Emanzi­pa­tion und Selb­st­bes­tim­mung des aufgek­lärten Indi­vidu­ums förderte, son­dern andere Zwänge von ungle­ich größer­er Kraft bere­i­thielt als die alte soci­etas civilis, her­auf beschworen von dem Bedeu­tungszuwachs für die Masse einerseits,von der tech­nis­chen Entwick­lung ander­er­seits.

In manchem erin­nert Moscas Hal­tung an diejenige Toc­quevilles. Jeden­falls hiel­ten bei­de die Nos­tal­gie für schädlich und woll­ten auf die verän­derte Her­aus­forderung reagieren, um etwas zu ret­ten von der alt­modis­chen Frei­heit. Um dieses Ziel zu erre­ichen, hielt Mosca zuerst einen scho­nungslosen Blick auf die Geset­ze des poli­tis­chen Lebens für unab­d­ing­bar.

– — –

Zitat:

Aber im poli­tis­chen Leben bedeutet das Attrib­ut »Beste« meist Men­schen, die zur Regierung ihrer Mit­men­schen am besten geeignet sind. In diesem Sinn kann das Adjek­tiv in nor­malen Zeit­en stets für die herrschende Klasse gebraucht wer­den, denn die Tat­sache, daß sie herrscht, beweist schon, daß sie aus den Ele­menten beste­ht, die zu dieser Zeit und in diesem Lande am besten zum Herrschen geeignet sind; was nicht heißt, daß es sich dabei immer um die intellek­tuell und vor allem moralisch »besten« Ele­mente han­delt. Denn um die Men­schen zu regieren, sind Umsicht, schnelles Ver­ständ­nis der Psy­cholo­gie der einzel­nen und der Massen und vor allem Selb­stver­trauen und Wil­len­skraft viel wichtiger als Gerechtigkeitssinn, Altru­is­mus und schon gar Weite der Bil­dung und des Blick­es.

– — –

Lit­er­atur:

  • James Burn­ham: Die Machi­avel­lis­ten. Vertei­di­ger der Frei­heit, Zürich 1949
  • James H. Meisel: Der Mythus der herrschen­den Klasse. Gae­tano Mosca und die »Elite«, Düsseldorf/Wien 1962