Die Orestie — Aischylos, 458 v. Chr.

Die einzige voll­ständig erhal­tene Tragö­di­en­trilo­gie, die Orestie des athenis­chen Dichters Ais­chy­los (525–456 v. Chr.), aufge­führt am Dionysien­fest des Jahres 458 v. Chr., umfaßt die Stücke Agamem­non, Die Choephoren und Die Eumeniden. Sie erzählen den Mythos des Atri­den­haus­es von Argos, über dem seit Gen­er­a­tio­nen ein Fluch liegt. In der vor­let­zten ist es Agamem­non, der König von Argos, der aus Rache für die Opfer­ung sein­er Tochter Iphi­ge­nie nach der Rück­kehr aus dem Tro­janis­chen Krieg von sein­er Ehe­frau Kly­taimnes­tra erschla­gen wird, woraufhin deren Sohn Orestes sein­er­seits tödliche Rache an der Mut­ter nimmt – vom Gott Apol­lon gedrängt, der ihn anschließend in Del­phi entsüh­nt.

Den­noch wird Orestes von den Erinyen, den grauen­erre­gen­den weib­lichen Rachegeis­tern sein­er Mut­ter, weit­er ver­fol­gt und sucht in Athen am Altar der Stadt­göt­tin Schutz. Athena läßt die einan­der wider­stre­i­t­en­den Ansprüche von Orestes/Apollon und den Erinyen durch ein von ihr erst­mals einge­set­ztes Bürg­erg­ericht unter­suchen und entschei­den. Stim­men­gle­ich­heit, so die verkün­dete Regel, solle Freis­pruch bedeuten. Aber erst die Stimme der Göt­tin gibt für Orestes den befreien­den Auss­chlag. Die Erinyen fühlen sich daraufhin über­fahren und dro­hen den Athen­ern mit aller­lei Übeln.

Athena find­et schließlich die Lösung des Kon­flik­ts, indem sie die Erinyen überre­det, aus Bös­gesin­nten zu Wohl­gesin­nten (Eumeniden) zu wer­den und sich von den Athen­ern als Schützerin­nen des Rechts kul­tisch verehren zu lassen. Im let­zten Teil, den Eumeniden, verknüpft Ais­chy­los den überkomme­nen Mythos also mit der Polis Athen. Durch diese bewußte Arbeit am Mythos wollte der Dichter vor und mit der im The­ater ver­sam­melten Bürg­er­schaft zen­trale Prob­leme des eige­nen Gemein­we­sens bewußt­machen und durch­denken.

Alle drama­tis­chen Auf­führun­gen im klas­sis­chen Athen waren ein wichtiger Teil der poli­tis­chen Kul­tur des Bürg­er­staates, einge­bet­tet in einen poli­tis­chen Kon­text und voller zeit­geschichtlich­er Bezüge. Entschei­dend sind jedoch die auf der Bühne durchdek­lin­ierten Grund­satzfra­gen des Gemein­schaft­slebens: in der Orestie die zivil­isatorische Lösung der katas­trophalen Rachev­er­strick­un­gen durch die Schaf­fung von Recht, Gericht und ratio­nalem, dif­feren­zieren­dem Beweisver­fahren.

Dann die Aufdeck­ung der in der Etablierung der Mehrheit­sentschei­dung steck­enden Gefahren – die Spal­tung der Gemein­schaft, nur zu über­winden durch ener­gis­che Anstren­gun­gen, die Unter­lege­nen nicht »niederzure­it­en«, son­dern wieder zu inte­gri­eren. Darin steckt die Erken­nt­nis, daß die Span­nung zwis­chen den Ansprüchen des einzel­nen und denen der Gemein­schaft zwar nicht auflös­bar ist, aber auch nicht notwendig Kon­flikt, son­dern Kom­ple­men­tar­ität bedeutet. Schließlich das Han­deln Athenas als ein ewig gültiges Vor­bild für die Bei­le­gung von Kon­flikt durch das Wort, das seine Überzeu­gungskraft aus Anerken­nung und Rück­griff auf die Tra­di­tion gewin­nt. Sie spendet die furcht- und ehrfurchte­in­flößende Kraft (griechisch: das deinon), der die Gemein­schaft die innere Bindung ver­dankt, indem der Hybris von Aufk­lärungs- und Fortschritts­gewißheit Gren­zen geset­zt wer­den.

Am Quellpunkt des europäis­chen The­aters mithin ein Plä­doy­er für Rechtsstaat, Ver­söh­nung, Bindung an Tra­di­tion und Respekt vor dem Unver­füg­baren. Welch ein Geschenk und verpflich­t­en­des Erbe!

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Zitat:

Wed­er der Anar­chie noch der Despotie sich zu beu­gen, son­dern sich davor zu schützen, rate ich den wach­samen Bürg­ern.

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Aus­gabe:

  • Griechisch und deutsch in: Ais­chy­los: Tragö­di­en und Frag­mente, hrsg. u. übers. v. Oskar Wern­er, München²1969, S. 5–253; deutsch: Die Orestie des Ais­chy­los, übers. v. Peter Stein, hrsg. v. Bernd Sei­den­stick­er, München 1997

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Lit­er­atur:

  • Chris­t­ian Meier: Die poli­tis­che Kun­st der griechis­chen Tragödie, München 1988
  • Michael Stahl: Gesellschaft und Staat bei den Griechen. Klas­sis­che Zeit, Pader­born 2003, S. 121–162